
Mit offenem Blick
Geboren und aufgewachsen in der Karibik: Camille Pissarro brachte eine ungewöhnlich weitläufige Perspektive in den Kreis der Pariser Impressionisten. Und er war von Anfang an dabei. Mit ihren wirklichkeitsbezogenen und oft im Freien gemalten Bildern revolutionierten die jungen Maler die Kunst. Ihre selbst organisierten Ausstellungen sorgten für Aufsehen, ernteten anfangs heftige Kritik. Pissarro hielt die lockere Gruppe als engagierter Netzwerker zusammen. Er beteiligte sich als einziger an allen acht Impressionisten-Ausstellungen.

Frühling in Éragny, 1900, Denver Art Museum, Frederic C. Hamilton Collection, Vermächtnis an das Denver Art Museum, Photo: William O’Connor, Denver Art Museum
Zu allen Jahreszeiten entdeckte Pissarro die Natur...

Die Route de Versailles, Louveciennes, Regeneffekt, 1891, Clark Art Institute, Williamstow
... auch bei Regenwetter.
Pissarro war ein politisch wacher Zeitgenosse. Er begeisterte sich für anarchistische Gesellschaftsutopien. Mit seiner wachsenden Familie lebte er lieber in kleinen Orten auf dem Land als in der Großstadt Paris. Am liebsten wählte er Alltagsmotive, oft aus seinem ländlichen Umfeld.

Garten und Hühnerstall von Octave Mirbeau, Les Damps, 1892, Sammlung Hasso Plattner, Museum Barberini, Potsdam
Blütenfülle im Garten des befreundeten anarchistischen Schriftstellers Octave Mirbeau.
Pissarros Bilder wirken oft unspektakulär. Aber sie lohnen einen zweiten Blick! Seine faszinierend vielfältigen und vielschichtigen Werke entdecken das ländliche Frankreich, beobachten ihm nahestehende Menschen, zeigen arbeitende Bäuerinnen und die dynamische Großstadt Paris. Sein Leben lang blieb der Künstler offen für neue Erfahrungen. Er entwickelte sich ständig weiter. Von Geldsorgen und schleppenden Verkäufen ließ er sich nicht beirren. Pissarro blieb seinen selbstgesteckten Ansprüchen treu und dabei stets sympathisch selbstkritisch.

Blick auf die Große Brücke zu Rouen bei Regenstimmung, 1896, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Den Maler Pissarro interessiert die Gegenwart ...

Der Pont Boieldieu, Rouen, Nebeleffekt, 1898, Colección Pérez Simón, Photo: Arturo Piera
... hier Rouen mit Dampfschiffen, Eisenbahn und Fabriken.
Die Kunst ist Ausdruck des Denkens, aber auch des Empfindens, ja vor allem des Empfindens [...].


Ein kleiner Fluss auf Saint Thomas (Jungferninseln), 1856, National Gallery of Art, Washington, Collection of Mr. and Mrs. Paul Mellon
Anfänge unter Palmen: Camille Pissarros Lebensgeschichte beginnt auf den Antillen. Er wächst in einem multikulturellen Umfeld auf. 1830 kommt er als dänischer Staatsbürger auf der Karibikinsel Saint Thomas zur Welt, damals eine Kolonie des Königreichs Dänemark. Eigentlich soll der Sohn aus wohlhabender, jüdischer Kaufmannsfamilie das dortige Handelshaus seiner Eltern übernehmen. Aber Pissarro schert aus.
Ich ließ, ohne weiter darüber nachzudenken, alles zurück und machte mich nach Caracas davon, um die Bande zwischen mir und dem bürgerlichen Leben zu durchtrennen.
Auf eigene Faust und nicht mit einer Expedition, wie frühere Maler, erkunden Pissarro und der junge Däne Fritz Melbye Venezuela.
Beim Arbeiten unter freiem Himmel schult Pissarro Beobachtungsgabe und Maltechnik.
Zwei Jahre lang bereist Pissarro mit einem befreundeten jungen Maler das Land Venezuela. Er sammelt auf dem abenteuerlichen Trip Erfahrungen mit der Freilichtmalerei und erlebt die Abschaffung der Sklaverei. Dann schifft er sich endgültig nach Frankreich ein. Sein Ziel steht fest: Künstler werden.
Es ist nahezu unmöglich, einen jungen Mann davon abzuhalten, dorthin zu gehen, wohin ihn seine Leidenschaft ruft.

Zwei Frauen am Meer in ein Gespräch vertieft, Saint Thomas, 1856, National Gallery of Art, Washington, Collection of Mr. and Mrs. Paul Mellon
Frauen an der karibischen Küste.
In Paris angekommen, malt der junge Pissarro weiterhin Landschaften aus seiner karibischen Heimat. Er arbeitet anhand von Erinnerungen und Skizzen. Diese idyllischen Motive aus fernen Ländern zielen auf ein europäisches Publikum. Schon in diesen frühesten Gemälden lässt Pissarro ein Interesse für die einfache Bevölkerung und ein besonderes Gespür für atmosphärische Landschaften erkennen.


Pontoise, 1867, Nationalgalerie Prag
Kohlfelder und Ackerland, blitzblaue oder wolkenverhangene Himmel – und vor allem ganz viel frische Luft: In Pissarros frühen Gemälden aus seinen Pariser Jahren macht sich ein neuartiges Interesse am unmittelbaren Erleben alltäglicher Umwelt bemerkbar. Kritiker sind irritiert, empfinden solche Motive als hässlich. In der privaten Académie Suisse, wo es ein offenes Zeichenatelier gibt, lernt Pissarro neue Freunde und Gleichgesinnte kennen. Einer davon heißt Claude Monet. Zusammen malen sie am liebsten draußen, so wie schon die Maler der Schule von Barbizon.

Die Ufer der Marne im Winter, 1866, The Art Institute of Chicago, Mr. and Mrs. Lewis Larned Coburn Memorial Collection, 1957.306, bpk / The Art Institute of Chicago / Art Resource, NY
Das karge und melancholische Gemälde begründet Pissarros Ruf als moderner Landschaftsmaler.
Die wichtigste öffentliche Plattform für Künstler ist der jährlich stattfindende Salon de Paris. Tausende Gemälde konkurrieren um die Aufnahme in die Großausstellung. Die Jury der Akademie gilt als konservativ. Aber Pissarro schafft es. Rasch erwirbt er einen Ruf als Vertreter einer modernen Art von Landschaftsmalerei.
Herr Pissarro ist ein Unbekannter, von dem wahrscheinlich niemand sprechen wird. (…) Vielen Dank, Monsieur, Ihre Landschaft hat mir bei meiner Reise durch die große Salon-Wüste eine gute halbe Stunde Erholung geschenkt. (…) Im Übrigen müssen Sie wissen, dass Sie niemandem gefallen und dass man Ihr Bild zu nackt, zu dunkel findet. Warum, zum Teufel, sind Sie aber auch so bemerkenswert ungeschickt, solide zu malen und die Natur unbefangen zu studieren?
Am Ufer der Oise in Pontoise hat sich Industrie angesiedelt.
Die aufgehellten Farben lassen bereits den Impressionismus erahnen.
Rund um seine Wohnorte Pontoise oder Louveciennes bei Paris erkundet Pissarro die Gegenden entlang der Seine. Oft sieht man im Hintergrund Fabrikschlote rauchen. Pissarro blendet die Industrialisierung nicht aus. Er zeigt sie als Phänomen der Gegenwart.

Lordship Lane Station, Dulwich, 1871, The Courtauld, London (Samuel Courtauld Trust)
Im Vorortbahnhof Dulwich bei London nimmt ein Zug Fahrt auf: das erste Eisenbahnbild des Impressionismus.
Als 1870 der Deutsch-Französische Krieg ausbricht, flieht Pissarro mit seiner Familie nach London. Dort lernt er seinen späteren Pariser Kunsthändler Paul Durand-Ruel kennen, trifft Claude Monet wieder. In der Nationalgalerie studiert er Gemälde von John Constable und William Turner. Sie bestärken ihn in seiner Suche nach einer wirklichkeitsnahen, atmosphärischen Landschaftsmalerei mit aufgehellten Farben und lockerer Pinselführung.


Die Landstraße (Die Côte du Valhermeil, Auvers-sur-Oise), 1880, The Baltimore Museum of Art, The Cone Collection, begründet von Dr. Claribel Cone und Miss Etta Cone aus Baltimore, Maryland
Am 15. April 1874 ist es soweit. Im Atelier des Photographen Nadar in Paris eröffnet die erste Ausstellung der „Societé anonyme coopérative des artistes, peintres etc.“. So nennt sich eine Gruppe junger Künstler, die man bald nur noch als „Impressionisten“ kennen wird. Ein Kritiker hat die Bezeichnung eigentlich als Spott gemeint. Doch das unmittelbare Einfangen des Momentanen, Flüchtigen und Atmosphärischen wird zum Markenzeichen der neuen Bewegung. Bis 1884 folgen sieben weitere Ausstellungen, in Eigenregie und mit wechselnder Besetzung. Pissarro bleibt eine treibende Kraft. Als einziger reicht er konsequent nie wieder ein Werk zum offiziellen Salon ein. Das starre und akademische System des Salons lief Pissarros Überzeugungen von Unabhängigkeit und Freiheit zuwider.

Raureif, 1873, Musée d’Orsay, Paris, Vermächtnis Enriqueta Alsop im Namen von Dr. Eduardo Mollard, 1972, Photo: akg-images / De Agostini Picture Lib. / G. Dagli Orti
Auf der 1. Impressionisten-Ausstellung zeigt Pissarro diese Darstellung eines klirrend kalten Wintertags auf dem Land.
Sollen das Furchen sein? Soll das Frost sein? Da wurde doch mit dem Palettenmesser gleichförmig über die schmutzige Leinwand gekratzt. (…) – Kann sein ... aber Impression ist da bestimmt drin. – Na ja, eine komische Impression!
Die Impressionisten stoßen auf heftige Reaktionen, zumeist ablehnende. Vielen Kritikern erscheinen ihre Werke unfertig, zu skizzenhaft und flüchtig. Nach der vorherrschenden akademischen Kunstauffassung muss ein Gemälde fein und glatt ausgeführt sein. Höchstes Ansehen genießen biblische oder mythologische Szenen. Die Impressionisten aber wollen die Gegenwart malen, der eigenen Wahrnehmung vertrauen. Sie studieren wechselnde Wetterphänomene und Lichtwirkungen mit höchster Konzentration und scharfer Beobachtungsgabe.
Unsere Ausstellung läuft gut, sie ist ein Erfolg. Die Kritik vernichtet uns (…), doch ich gehe wieder an meine Studien, das ist besser, als Kritiken zu lesen, aus ihnen kann man nichts lernen.

Der Garten von Les Mathurins in Pontoise, 1876, The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri, Ankauf: William Rockhill Nelson Trust. 60–38, Image courtesy of Nelson-Atkins Digital Production & Preservation, Joshua Ferdinand
Dieses Anwesen bewohnt die bekannte Frauenrechtlerin Maria Deraismes. Pissarro teilt ihre fortschrittlichen Ansichten.
Pissarro ist auf allen acht Impressionisten-Ausstellungen mit zahlreichen Werken vertreten. In seinen Werken zeigt er, anders als seine Freunde Claude Monet oder Pierre-Auguste Renoir fast nie die Lebenssphäre und Freizeitvergnügen der kaufkräftigen Oberschicht. Sein Interesse gilt den einfachen Leuten, der arbeitenden Bevölkerung auf dem Land. Für solche Motive Käufer zu begeistern, ist nicht leicht. Pissarros Geschäfte laufen schlecht.
Die winterliche Rückkehr vom Markt zeigt Pissarro auf der 4. Impressionisten-Ausstellung 1879.
Die farbfrische Ernteszene erwirbt die befreundete Impressionistin Berthe Morisot.
Dekorative Avantgarde: Mehrfach präsentiert Pissarro bemalte Fächer auf den Impressionisten-Ausstellungen. Fächer sind in Paris gerade groß in Mode. Von japanischem Kunsthandwerk inspiriert überschwemmen sie den Markt: nicht nur elegantes Damen-Accessoire, sondern auch Wanddekor. Den experimentierfreudigen Pissarro reizt das ungewöhnliche Format. Er hofft zudem auf eine neue Einnahmequelle und breitere Käuferschichten, um seiner ständigen Geldnot abzuhelfen.

Ich glaube nicht, dass er zuhause viel zu sagen hat, da hat seine Frau die Hosen an.

Portrait des Künstlers, 1873, Musée d’Orsay, Paris, Schenkung Paul-Émile Pissarro, 1930, © akg-images / Laurent Lecat
Sich selbst hat Pissarro selten gemalt.

Julie Pissarro näht am Fenster, 1877, The Ashmolean Museum, University of Oxford, Geschenk von Esther Pissarro, 1951
Der Maler hält seine Frau Julie bei ihrer Näharbeit fest.
Dem Künstler Pissarro ist die Familie enorm wichtig. Als seine Frau Julie und er sich kennenlernen, ist sie als Küchenmädchen bei seinen Eltern angestellt. Julie Vellay stammt aus einer einfachen Weinbauernfamilie im Burgund. Aus der lebenslangen Ehe gehen acht Kinder hervor. Aber Pissarros unregelmäßige Einkünfte sorgen immer wieder für Konfliktstoff. Durch kluges Wirtschaften und eigenen Gemüseanbau trägt seine Ehefrau zum Lebensunterhalt der vielköpfigen Familie bei.

Portrait von Jeanne Pissarro, 1872, Yale University Art Gallery, New Haven, John Hay Whitney, B.A. 1926, M.A. (Hon.) 1956, Sammlung
Feinfühlig erfasst der Maler seine kleine Tochter Jeanne, genannt Minette, im rosa Kleid ...

Jeanne Pissarro (Minette) mit Fächer, 1873, The Ashmolean Museum, University of Oxford, Vermächtnis Esther Pissarro, 1952
... und vier Jahre später, bereits von Krankheit geschwächt. Sie stirbt mit neun Jahren.
Liebevoll begleitet Pissarro das Heranwachsen seiner acht Kinder. Als engagierter Vater mit freiheitlichen Erziehungsidealen fördert er die Kreativität seiner Kinder nach Kräften. Alle fünf Söhne ergreifen künstlerische Berufe, sei es im druckgraphischen oder im kunstgewerblichen Bereich. Ehefrau Julie sieht das kritisch, wegen des unsicheren Broterwerbs.


Die Heumacherin, 1884, Colección Pérez Simón
Arturo Piera
Immer größeren Stellenwert gewinnen in Pissarros Landschaften die Menschen. Würdevoll und mit Respekt schildert der Maler die bäuerliche Bevölkerung bei ihrer Arbeit. Eingebunden in den Rhythmus und Kreislauf der Jahreszeiten widmen sie sich dem Heumachen, Ernten, Pflanzen und Säen wie vor Jahrhunderten. Die großstädtische Hektik scheint weit weg. In diesen Bildern liegt auch eine gesellschaftliche Utopie: der Traum von einem selbstbestimmten Leben und gemeinschaftlicher Arbeiten im Einklang mit der Natur.

Die Metzgerin, 1883, Tate, Vermächtnis Lucien Pissarro, der Sohn des Künstlers 1944
Frauen bei der Arbeit: Ein junge Marktfrau in weißer Schürze richtet ihren Verkaufsstand.
Ob auf den Märkten oder bei der Feldarbeit: Meist rückt Pissarro die Frauen in den Blick. Die alltägliche Arbeit geht ihnen anscheinend leicht von der Hand. Zufrieden wirken sie, aktiv zupackend, fachkundig und lebendig. Ein ganz neues Frauenbild prägt der Maler hier: frei von erotischen Untertönen und den überlieferten Geschlechterstereotypen der Kunstgeschichte.
In vielen Figurenstudien erarbeitet Pissarro sich seine Motive.
Mit Pastellkreiden und Wasserfarben sind die Landfrauen beim Heumachen erfasst, eingebettet ins Grün.
Warme Farben verbreiten eine friedliche, harmonische Stimmung.
Von Plage, Mühsal und Erschöpfung ist nichts zu spüren, wenn Pissarro die Landbevölkerung schildert. Auch für eine Pause oder ein Gespräch bei der Arbeit bleibt immer Zeit. Die rhythmischen Bewegungen der meist weiblichen Figuren gleichen einem tänzerischen Reigen und sind sorgfältig durchchoreographiert. Die aufwendigen mehrfigurigen Kompositionen bereitet der Maler sorgfältig in vielen Skizzen und Studien vor.
Herr Pissarro hat längst aufgehört, ausschließlich vor der Natur zu arbeiten und ihre flüchtigen (...) Details wiederzugeben. Er hält zunächst in Aquarell oder Pastell die Physiognomie eines Ortes, das Aussehen eines Bauern (...) fest, dann geht er fernab vom Motiv an die kompositorische Arbeit (...): Übrig bleiben nur die wesentlichen Aspekte.

Der Künstler beschäftigt sich intensiv mit den Gesellschaftsutopien anarchistischer Schriftsteller und Denker. Er liest Schriften von Pierre-Joseph Proudhon und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, diskutiert darüber mit seinen Kindern und Freunden. Pissarro abonniert anarchistische Zeitschriften und liefert teilweise selbst Illustrationen dafür. Die Anarchisten lehnen jede Form von Herrschaft ab. In der freien Selbstorganisation der Menschen sehen sie die Chance auf ein besseres Leben für alle. Eine Schlüsselrolle soll dabei den selbstständig arbeitenden Bauern zukommen.
Alle Künste sind anarchistisch, wenn sie gut und schön sind!
In seinen Gemälden bringt Pissarro seine politischen Überzeugungen nur unterschwellig zum Ausdruck. Konkreter wird er im Album „Soziale Schandtaten“ („Turpitudes Sociales“). Die Tuschezeichnungen üben scharfe Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Er schickt die karikaturhaften Darstellungen an seine Nichten in England. Sie sollen verstehen, was falsch läuft in Staat und Politik.
Auf dem Titelblatt der „Sozialen Schandtaten“ erstrahlt über dem Eiffelturm verheißungsvoll das Wort Anarchie.
Geldgier: Pissarro nimmt die korrupten Bankiers aufs Korn.
Unerträgliche Arbeitsbedingungen: Eine Mutter begeht mit ihren Kindern Suizid.
Götzendienst der Kapitalwirtschaft: Beleibte Anzugträger huldigen dem Goldenen Kalb, in Anspielung auf die biblische Geschichte.
Meine liebe Nichte, ich kann sehr gut verstehen, dass Du von Politik nicht viel weißt, (...); das allgemeine Wahlrecht, musst Du wissen, ist ein Herrschaftsinstrument der kapitalistischen Bourgeoisie (...). Also Nein zur Regierung, zum Staat, zu den Kapitalisten (...). Ich lege Dir das bemerkenswerte Buch von Kropotkin ans Herz, (...) – in einem ganz einfachen Stil, leicht zu lesen und glasklar!

Schäfer und Schafe, 1890, Colección Pérez Simón, Photo: Arturo Piera
Viele Werke Pissarros lassen seine politische Haltung und seine Hoffnung auf eine Harmonie zwischen Mensch und Natur durchschimmern.
Ich habe gerade das Buch von Kropotkin gelesen. Man muss zugeben, wenn es auch utopisch ist, so ist es auf jeden Fall ein schöner Traum. Und da wir schon oft Beispiele für Utopien hatten, aus denen Realität geworden ist, hindert uns nichts daran, zu glauben, dass das eines Tages möglich sein wird, es sei denn, der Mensch versinkt und kehrt zur völligen Barbarei zurück.


Wiese in Éragny mit Kühen, Nebel, Sonnenuntergang, 1891, Privatsammlung, Schweiz
Eine neue Wendung nimmt Pissarros Entwicklung, als er 1885 den jungen Künstlern Paul Signac und Georges Seurat begegnet. Sie hätten vom Alter her seine Söhne sein können. Ihre Art zu malen begeistert ihn. Angeregt von aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich der Optik und Farbtheorie setzen sie winzige Tupfen in Reinfarben nebeneinander. Statt auf der Palette mischen sich die Farbtöne erst im Auge der Betrachtenden. Pissarro lässt sich auf das Abenteuer Neoimpressionismus ein. Die anderen Impressionisten bleiben skeptisch.
Es ist merkwürdig: Wenn man mit der Punkttechnik arbeitet, mit Zeit, mit Geduld, erreicht man nach und nach eine erstaunliche Zartheit.

Raureif, eine junge Bäuerin macht Feuer, 1888, Sammlung Hasso Plattner, Museum Barberini, Potsdam
Es ist ein eisiger, sonniger Wintertag. Ein Feuerchen aus gesammelten Ästen spendet Wärme.
Hitze und Kälte, Licht und Schatten, Ferne und Nähe: Gegensätze vereinigen sich in einem flirrenden Spiel farbiger Pinselspuren. Die neoimpressionistische Tüpfeltechnik ist für Pissarro eine Weiterentwicklung des Impressionismus. Ihm geht es dabei vor allem um das, was er Synthese nennt: Pissarro will die Gegensätze im Bild zu einer harmonischen Einheit formen. Dieses Ziel verfolgt er schon länger.
Die moderne Synthese anstreben, mit wissenschaftlich fundierten Mitteln, die auf der von Chevreul entdeckten Farbtheorie, den Experimenten von Maxwell und den Messungen von N. O. Rood basieren. (...) Denn die optische Mischung ruft eine viel intensivere Leuchtkraft hervor als die Pigmentmischung.
Sonne satt: Seine Motive findet Pissarro nahe seines Wohnorts.
Eindrucksvoller Gegenlichteffekt: eine durchziehende Schafsherde wirbelt viel Staub auf.
Die Neoimpressionisten versuchen, die Landschaft zu einem endgültigen Erscheinungsbild zu synthetisieren, das ihre Empfindung verewigt.
Neoimpressionistisch zu malen erweist sich als zeitraubend, langwierig und erfordert ein sehr planmäßiges Vorgehen. Pissarro merkt mit der Zeit, dass ihn das starre System der Farbzerlegung einengt. Er fühlt sich darin beschränkt, seine spontanen Empfindungen auf die Leinwand zu bringen. Nach vier Jahren gibt er das stilistische Abenteuer auf. Aber die gemachten Erfahrungen bereichern ihn, er bezieht die neue Malweise fortan mit ein.

In dem kleinen Dorf Éragny-sur-Epte nordwestlich von Paris nahe der Grenze zur Normandie findet Pissarro eine dauerhafte Bleibe, nach vielen Jahren häufiger Umzüge. Endlich leistet er sich hier ein großzügiges Atelier in der umgebauten Scheune. Dies wird um so wichtiger, als der älter werdende Künstler an einer chronischen Augenentzündung leidet. Auf das Malen im Freien muss er phasenweise ganz verzichten. Pissarro malt weiterhin vor dem Motiv, aber eben vom Fenster aus – mit Blick nach draußen.

Blühende Pflaumenbäume, Éragny, 1894, Ordrupgaard, Kopenhagen, © Heritage Images / Fine Art Images / akg-images
Blick in den Garten: Obstblüte in Éragny!
Auf zahlreichen Bildern Pissarros taucht das Haus in Éragny auf. Es hat eine großen Garten und liegt von Feldern umgeben. Julie Pissarro baut Gemüse und Obst an, hält zeitweise auch Hühner. Anfangs wohnen die Pissarros hier zur Miete. Ein Darlehen von Claude Monet ermöglicht es schließlich, das Haus zu kaufen. Die Initiative dazu kam von Julie Pissarro, ohne sich mit ihrem Mann abzusprechen.
Dieses Atelier ist großartig, aber ich sage mir oft: Wozu brauche ich ein Atelier? Früher habe ich meine Bilder überall gemalt; zu jeder Jahreszeit, in brütender Hitze, bei Regen, in klirrender Kälte... [...] Ob ich in dieser neuen Umgebung werde arbeiten können???
Detailfreudig beobachtet: grasende Kühe, knorrige Obstbäume, Zaunpfähle.
Schnee verändert die Landschaft und lässt neue Farbeffekte entstehen.
Das intensive Leuchten der untergehenden Sonne verleiht der Abendszene einen feierlichen Charakter.
Das ländliche Umfeld von Éragny inspiriert Pissarro. Einen kurzen Spaziergang entfernt auf der anderen Uferseite des Flüsschens Epte liegt das Nachbardorf Bazincourt. Immer wieder kehrt der Maler an den gleichen Standort zurück. So entstehen über Jahre zahlreiche Variationen eines Motivs. Sie zeigen ein von menschlicher Arbeit geprägtes Stück Natur: mit Weideland, Streuobstwiesen und Alleebäumen.


Avenue de l’Opéra, 1898, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Reims, Vermächtnis Henry Vasnier, 11/1907
Photo: Christian Devleeschauwer
Die quirlige Metropole Paris! Pissarro entdeckt das Thema spät, dann aber intensiv. Kein anderer Impressionist malt so viele Ansichten der Brennpunkte modernen Lebens. Vom ländlichen Éragny reist Pissarro per Eisenbahn in die Hauptstadt, auch um Kontakt zur Kunstszene zu halten. Sein Händler Paul Durand-Ruel bestärkt ihn darin, ganze Serien von Boulevards und Plätzen zu malen. Denn die neuen Großstadtmotive verkaufen sich. Auch die lebhaften Hafenstädte Rouen und Le Havre hält der Maler fest.
Ich freue mich, dass ich mich an diesen Pariser Straßen versuchen kann, die üblicherweise als hässlich gelten, aber so silberhell leuchten und so lebendig sind – das ist so vollkommen modern!!!

Boulevard Montmartre, Abenddämmerung, 1897, Sammlung Hasso Plattner, Museum Barberini, Potsdam
Der belebte Boulevard Montmartre fesselt über zwei Monate lang Pissarros Aufmerksamkeit: Sechzehn Ansichten entstehen.

Boulevard Montmartre, Mardi Gras, Sonnenuntergang, 1897, Kunst Museum Winterthur, Ankauf, 1947, © Photo: SIK-ISEA, Zürich, Martin Stollenwerk
Am Mardi Gras, dem Faschingsdienstag, ist der Boulevard schwarz von Menschen.
Was macht eine Stadt aus? Seriell erkundet Pissarro es. Für seine Stadtansichten quartiert der Maler sich mit Vorliebe in hochgelegenen Hotelzimmern ein. Er arbeitet an bis zu einem Dutzend Leinwänden parallel, um Licht- und Wetterwechsel einzufangen. Das pulsierende Paris mit Wohnhäusern und Prachtbauten wird zur Kulisse. Wichtiger ist dem Maler das Treiben der Bewohner. Bei Pissarro gehört der Stadtraum allen Menschen, nicht nur den wohlhabenden Flaneuren aus dem Bürgertum.
Ich frage mich, ob Durand meine nächste Serie von Gemälden nicht ablehnen wird; ich bin entmutigt, weil es keinen einzigen anderen Kunsthändler gibt, der Geschäfte machen will! [...] Man hält mich für reich; dabei kämpfe ich die ganze Zeit, um über die Runden zu kommen.
Die im 16. Jahrhunderte erbaute Pont Neuf ist die älteste Brücke von Paris.
Hier ballt sich das städtische Leben.
Die bewegte Pinselführung betont die flüchtigen, rasch wechselnden Eindrücke: Eine umfangreiche Serie widmet Pissarro der Pont Neuf, einer wichtigen Verkehrsachse von Paris. Er wählt einen erhöhten Standpunkt, um die Szenerie im Überblick und aus der Distanz zu erfassen. Fast die Hälfte der Leinwand nimmt der schimmernde Himmel ein: auch er ein Schauspiel ständigen Wandels.
Städte haben eine besondere Physiognomie, die den Maler unweigerlich anzieht: belebt, anonym, geschäftig, geheimnisvoll.

Die Anse des Pilotes, Le Havre, Morgen, Sonne, steigende Flut, 1903, Musée d’art moderne André Malraux, Le Havre, © MuMa Le Havre / Florian Kleinefenn
Modernes Hafenleben mit Schaulustigen am Kai und einem öffentlichen Pissoir im Vordergrund.
Seine letzte Gemäldeserie malt der Künstler 1903 in Le Havre. Hier hatte Pissarro mit zwölf Jahren erstmals französischen Boden betreten, um ein Internat bei Paris zu besuchen. Als betagter Maler kehrt er an diesen Ort zurück. Er beobachtet und erlebt eine Hafenstadt in rapidem Wandel. Zwei seiner Ansichten kauft das örtliche Museum an. Es ist Pissarros erster Museumsankauf in Frankreich.
Manchmal habe ich schreckliche Angst davor, eine Leinwand umzudrehen, weil ich fürchte, dass ich statt des kostbaren Kleinods, das ich gemalt zu haben glaubte, eine Monstrosität vorfinde! [...] Dann gibt es aber wieder Momente, in denen ich mit großer Erleichterung feststelle, dass manches ganz ordentlich geraten ist und meinem Charakter sehr entspricht. Wie dem auch sei – das Malen, überhaupt die Kunst verzaubert mich, das ist mein Leben, was kümmert mich der Rest.