Maurice de Vlaminck
Er war ein wilder, unabhängiger Künstlerrebell. So jedenfalls sah sich der Maler Maurice de Vlaminck (1876–1958) selbst. Sein Leben lang inszenierte er sich als „ungestümer Barbar“ ohne künstlerische Ausbildung, als revolutionärer Einzelgänger und Außenseiter. Aber stimmt dieses Bild, das er in seinen Schriften entwarf und das seine Wahrnehmung bis heute prägt?
Vlamincks Œuvre hat überraschend viele Facetten. Seine Werke finden sich heute weltweit in den bedeutendsten Museen und Sammlungen.
Mit farbintensiven und ausdrucksstarken Gemälden sicherte der Künstler sich Aufmerksamkeit von Anfang an. Was damals das Publikum schockierte und irritierte, ist bis heute als mitreißende Kraft spürbar. Jeder Pinselstrich steckt voller Energie. Diese furiose, ungestüme Malweise wurde Vlamincks Markenzeichen.
Ich war ein sanftmütiger Barbar, voller Gewalt. Ich drückte instinktiv und ohne jede Methode eine Wahrheit aus, die nicht künstlerischer, sondern menschlicher Natur war.
Aber Vlaminck arbeitete nicht isoliert vom Kunstgeschehen seiner Zeit. Er war eingebunden in die Netzwerke der Moderne. Und registrierte sehr genau, was in der Kunstszene um ihn herum vorging. Kraftvoll und eigensinnig hat Maurice de Vlaminck den Weg der Malerei im 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt.
Die Ausstellung Maurice de Vlaminck. Rebell der Moderne im Museum Barberini ist die erste postume Retrospektive, die dem Künstler an einem deutschen Museum gewidmet wird. Anhand von 73 Exponaten vermittelt sie einen Überblick über Vlamincks gesamtes malerisches Werk: von fauvistischen Gemälden über Experimente mit dem Kubismus bis zum kaum erforschten Spätwerk. Zu entdecken sind nicht nur seine berühmten Landschaften; auch hinreißende Stillleben und Figurenbilder hat Vlaminck gemalt.
In mir kochte es, denn ich war, sozial gesehen, ein geborener Revolutionär.
Farbe pur! Mit provozierenden Gemälden traten auf dem Pariser Herbstsalon 1905 einige junge Künstler an die Öffentlichkeit. Mitten dabei: Der erst 29-jährige Maurice de Vlaminck. Ebenfalls mit von der Partie waren der befreundete André Derain sowie der schon bekanntere Henri Matisse – keine feste Gruppe, aber Gleichgesinnte.
Radikal setzten sie auf die reine Ausdruckskraft der Farbe, zeitgleich mit den jungen Expressionisten in Deutschland. Kritiker empfanden die heftige Farbkraft als zügellos und enthemmt. Schnell war das Schlagwort „Wilde Bestien“, auf französisch „Fauves“, geboren. Den beteiligten Künstlern gefiel der Begriff Fauvismus nicht. Nur Vlaminck war damit ganz einverstanden.
Was ist der Fauvismus? – Das bin ich. (…) Das ist meine Art und Weise zu rebellieren und mich zugleich zu befreien, (…) das sind meine Blau-, meine Rot-, meine Gelbtöne.
Als Jugendlicher hatte Vlaminck gelegentlich Malunterricht bei einem Nachbarn erhalten. Davon abgesehen blieb er stolzer Autodidakt: Nichts sollte ihn in seiner Freiheit einschränken. Er pfiff auf die akademische Tradition und behauptete, nie ein Museum von innen gesehen zu haben.
Mit meinen Kobalt- und Zinnoberfarben wollte ich die École des Beaux-Arts niederbrennen und meine Gefühle mithilfe meiner Pinsel ausdrücken, ohne mich darum zu kümmern, wie die Malerei vor mir war.
Statt an der Kunstakademie zu studieren, verdiente Vlaminck sein Geld anfangs als leidenschaftlicher Radrennfahrer und Geigenspieler. Er trat in Cafés und im Theater auf. Die Malerei betrieb er zunächst nur zur Entspannung. Auch in Pariser Nachtlokalen fand er seine Motive.
Grelle Schminke und freizügige Körperlichkeit kennzeichnen die Frauen als Prostituierte. Schonungslos zeigt Vlaminck sie in heftigen Farben. Das knallige Rot setzt er als visuelles Reizmittel ein. Die Symbolfarbe war aber auch ein programmatisches Bekenntnis zu Wildheit und Leidenschaft.
Seine Landschaften, die die Wände schmückten, bedeuteten eine heftige Herausforderung der Spießbürger, die nur eine glattgemalte Natur begreifen konnten. Ich ließ mich von dieser Übertreibung nicht schrecken und kaufte ihm das ganze Atelier ab.
Der risikofreudige Kunsthändler Ambroise Vollard setzte alles auf eine Karte. 1905 übernahm er den gesamten Atelierbestand Vlamincks. Zuvor schon hatte er umstrittene Künstler wie Vincent van Gogh und Pablo Picasso im Programm. Fortan konnte Vlaminck sich ganz auf seine Malerei zu konzentrieren. Innerhalb weniger Jahre entstand eine erstaunliche Fülle von Gemälden. Spontaneität und Schnelligkeit waren Teil seiner Strategie.
Wohl war ich glücklich über die Gewissheit, die er mir gab, gleichzeitig aber traf es mich wie ein heftiger Schlag!
Vlaminck gab sich stets als künstlerischer Selfmademan, frei von allen Einflüssen, aber einen Maler bewunderte er rückhaltlos: Vincent van Gogh. Er übernahm dessen freie, bewegte Pinselstrichführung. Das Auge findet in den strömenden Farbimpulsen keinen Ruhepunkt.
Auf einer Soloschau in der Pariser Galerie Bernheim-Jeune entdeckte Vlaminck die Malerei van Goghs 1901 für sich. Der Maler imponierte Vlaminck offensichtlich auch als missverstandenes Künstlergenie: Zu Lebzeiten erfolglos, erfuhr van Gogh nun wachsendes Renommee.
Als ich seine Bilder sah, erschienen sie mir als endgültige Lösungen, und weil ich den Menschen und sein Werk grenzenlos bewunderte, stand seine Gestalt wie ein Gegner vor mir.
Für Vlaminck war die Arbeit mit industriell hergestellten Ölfarben selbstverständlich. Sie kamen fix und fertig aus der Tube, man kaufte sie einfach beim Farbenhändler. Schon den Impressionisten hatten die praktischen Tubenfarben das Arbeiten unter freiem Himmel erst ermöglicht. Man konnte damit, wie Vlaminck feststellte, aber auch völlig neue Effekte erzielen. Oft quetschte er die reine Farbe direkt aus der Tube auf die Leinwand.
Ich zerdrückte und zermantschte Ultramarin und Zinnoberrot.
Die Schnelligkeit des Malprozesses teilt sich unmittelbar mit. Das entsprach ganz Vlamincks Selbstinszenierung als „barbarischer“ Künstler: Der Fauvist drückte, getrieben von Instinkt und wilder Schaffenswut, buchstäblich „auf die Tube“.
Unvermischt und unverdünnt brachte der Maler die Tubenfarben auf. Durch ihren hohen Sättigungsgrad leuchten die Töne besonders intensiv. Bei der Farbwahl kam es ihm weniger auf die Wirklichkeitsnähe als auf die Ausdrucksstärke an.
Ich übertrieb alle Töne. Ich verwandelte alle mir irgend wahrnehmbaren Gefühle in einen Rausch reiner Farben.
Vor allem im Winter, wenn er nicht draußen im Freien arbeiten konnte, malte Vlaminck gern Stillleben. Auch die anderen Fauve-Maler schätzten diese traditionsreiche Gattung, denn sie war wie keine andere bestens geeignet, um neue Gestaltungsmittel auszuprobieren. Genau das lässt sich auch bei Vlamincks Stillleben beobachten. Seine fauvistischen Arrangements alltäglicher Gegenstände wirken alles andere als still. Durch heftige Farbkontraste vibrieren sie vor Energie.
Geduldig im Atelier arrangierte der selbsterklärte Künstlerrebell und „wilde Barbar“ für seine Stillleben Früchte und Gefäße auf einem Tisch. Daran trieb er seine Studien voran und testete etwa neue Möglichkeiten der Raumgestaltung im Bild.
Spiegelnde Wellen und grüne Ufer: Nichts hat Vlaminck so häufig und gern gemalt wie Flusslandschaften oder Ansichten der Dörfer entlang der Seine. Er bewegte sich hierbei auf den Spuren der Impressionisten. Wie Claude Monet oder Camille Pissarro arbeitete der Künstler in freier Natur bei wechselndem Wetter und nahm seine Bilder unmittelbar vor dem Motiv in Angriff.
Die Orte entlang des Seine-Flusses waren Vlaminck bestens vertraut. Hier kannte er sich aus. In Le Vésinet und Chatou war er aufgewachsen, hatte später mit dem Fahrrad auf ausgedehnten Touren flussauf, flussab das Gelände erkundet. Er wusste, wo die besten Spots zum Malen waren.
Die Entdeckung der Welt fing für mich in dem Augenblick an, wo ich ein Fahrrad mein eigen nannte. Von morgens bis abends straßauf, straßab, durchfuhr ich die Städte, Dörfer und das offene Land. Ich schmeckte den Staub, fühlte den Regen, kämpfte gegen den Wind.
In vielen Gemälden richtet Vlaminck seine Aufmerksamkeit auf das Wasser. Kräftige, klar erkennbare Pinselstriche lassen die Szenerie skizzenhaft wirken. Der Maler verzichtet auf Details und abstrahiert die Natur. Gezielt setzt er Kontraste ein, um die Farbwirkung zu steigern: das Kobaltblau des Wassers leuchtet im Zusammenspiel mit den roten Akzenten der Hausdächer am Ufer.
Anders als die Impressionisten malt Vlaminck nicht die großstädtischen Ausflügler. Sein Interesse gilt der wirtschaftlichen Nutzung des Flusses und der Arbeitswelt: Qualmende Schlote, imposante Industrieanlagen kommen in den Blick, moderne Dampfer und Lastkähne auf der Seine.
Bereits während seiner Militärzeit um 1900 hatte sich Vlaminck politisiert und anarchistische Schriften verschlungen. In Artikeln nahm er für die Besitzlosen und streikenden Arbeiter Partei. Offen bekannte er sich zum Anarchismus, rebellierte gegen Militarismus und Nationalismus. In der Malerei fand er ein Ventil – und Freiräume, um erstarrte Regeln und überkommene Normen zu brechen.
Was ich im Leben nur als Anarchist hätte tun können, eine Bombe schleudern – was mich aufs Schafott gebracht hätte –, das versuchte ich in der Malerei durch die ausschließliche Verwendung reiner Farben zu verwirklichen.
Das Spiel mit reiner Farbe und sonst nichts, bis ins Extrem, dieser Rausch, in den ich mich voller Inbrunst gestürzt hatte, befriedigte mich nicht mehr.
Irgendwann genügten Vlaminck die grellen Farben des Fauvismus nicht mehr. Ein Wandel in seinem Schaffen zeichnete sich ab. Der Maler schlug eine andere Richtung ein und entfernte sich vom Fauvismus. Ab etwa 1907 ging Vlaminck zu dunkleren und gedämpfteren Farben über. Zugleich achtete er nun stärker auf geometrische Strukturen und arbeitete diese heraus.
Ockerfarbene Felder dehnen sich unter einem mattblauen Himmel: Im Süden Frankreichs, in der Provence malte Vlaminck die Landschaft bei Martigues. Das Gemälde wirkt wie eine Hommage an Cézanne. Dieser hatte häufig ähnliche Motive gestaltet.
Zwischen 1905 und 1907 brach in Paris ein regelrechtes ,Cézanne-Fieber‘ aus. Mehrere große Ausstellungen nach dem Tod des wegweisenden Malers förderten seine Wiederentdeckung. Dies befeuerte auch den heranreifenden Kubismus. Aufmerksam beobachtete Vlaminck diese brandaktuellen Tendenzen.
Ein Flirt mit dem Kubismus? Die kantigen, zersplitterten Formen lassen an kubistische Werke von Pablo Picasso oder Georges Braque denken. Später äußerte Vlaminck sich zwar abfällig über den Kubismus, aber ab 1908 experimentierte er selbst mit der Formenzergliederung der Kubisten und deren Darstellungsstrategien. Allerdings blieb dies nur eine kurze Phase – bevor der Ausbruch des Ersten Weltkriegs Europa erschütterte. Auch für Vlaminck bedeutete er eine Zäsur.
Der Krieg war für mich eine große Lehre. Mein ganzes Vertrauen in die Zivilisation, in die Wissenschaft, den Fortschritt und den Sozialismus ist zusammengebrochen! (...) Ich glaube an nichts mehr. (...) Selbst an die Malerei glaube ich nicht mehr!
Nach dem Ersten Weltkrieg machte Maurice de Vlaminck Schluss mit allen avantgardistischen Experimenten. Als junger fauvistischer Maler hatte der selbst erklärte Rebell einst zwischen 1904 und 1908 die moderne Malerei entschieden vorangetrieben. Nun knüpfte er stattdessen an vorangegangene Strömungen an: Sein Spätwerk entwickelt eine eigenwillige Spielart des Postimpressionismus.
Während der deutschen Besatzung Frankreichs (1940–1944) hatte Vlaminck der französischen Avantgarde eine Absage erteilt und gegen sie polemisiert. Stattdessen lobte er unverhohlen die Vitalität der nationalsozialistischen Kunst und Kultur. Seine eigenen fauvistischen Werke allerdings fielen dem reaktionären Kunstverständnis der Nationalsozialisten zum Opfer und wurden als „entartet“ aus deutschen Museen entfernt.
Die Natur schildert Vlamincks in seinen späten Werken als unergründlich und furchteinflößend. Dunkle Wolken jagen über den Himmel. Heftige Gewitter rücken heran. Mit starken Helldunkel-Kontrasten verstärkt der Maler die beklemmende Atmosphäre.
Wuchtig und schroff heben sich die Getreideschober hervor. Immer wieder kam Vlaminck in seinen späten Jahren auf dieses ländliche Motiv zurück. Claude Monet hatte es in einer bahnbrechenden Serie von sonnendurchfluteten, farbflirrenden Ansichten berühmt gemacht und in die Kunstgeschichte eingeschrieben, als Schlüsselmotiv. Bei Vlaminck jedoch verdüstert sich der Himmel. Klingt darin eine Ablehnung von Fortschritt und Modernisierung an? Der zeitgenössischen Avantgarde jedenfalls erteilt Vlaminck eine Absage.
Die wahren Befreiungen findet man in sich selber ... und die Freiheit in einem selbst ist unendlich.