Surrealismus und Magie
Mit dem Manifest des Surrealismus (1924) begründete der französische Schriftsteller André Breton eine neue künstlerische und literarische Strömung. In ihrem Zentrum stand die Welt des Traums und des Irrationalen. Die Ausstellung Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne ist die erste umfassende Werkschau, die das Interesse der Surrealisten an Magie und Okkultismus in den Blick nimmt.
Meisterwerke von weltbekannten Künstlern wie Giorgio de Chirico, Salvador Dalí, Max Ernst und René Magritte werden in der Schau gezielt neben Schlüsselarbeiten von Malern gezeigt, die es für das große Publikum zu entdecken gilt, darunter Victor Brauner, Enrico Donati, Jacques Hérold, Wolfgang Paalen und Kurt Seligmann. Darüber hinaus beleuchtet die Ausstellung den zentralen Beitrag von Frauen, der in Arbeiten von Künstlerinnen wie Leonora Carrington, Leonor Fini, Jacqueline Lamba, Kay Sage, Dorothea Tanning und Remedios Varo eindrucksvoll zum Ausdruck kommt.
Zahlreiche Künstler waren mit dem Werk Sigmund Freuds vertraut, etwa seinem Buch Totem und Tabu (1913). Dort hatte Freud das Grundprinzip der Magie als den Glauben an die „Allmacht der Gedanken“ definiert. Die Idee der menschlichen Phantasie als einer magischen Kraft, die aktiv auf die Realität einwirken kann, faszinierte die Surrealisten. Entsprechend propagierten sie das Selbstbild des Künstlers als Zauberer, Magier und Alchemist, der dank seiner Phantasie neue, illusorische Welten heraufbeschwören kann.
Der Prolog zur Ausstellung zeigt, welche Anregung die Surrealisten aus der Ideengeschichte der Magie bezogen und welche okkulte Symbolik sie ihren phantastischen Bildfindungen zugrunde legten.
Ich glaube an die zukünftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.
Ein wichtiger Vorläufer des Surrealismus war Giorgio de Chirico. Mit seiner Metaphysischen Malerei wollte er der Rätselhaftigkeit des menschlichen Lebens Ausdruck verleihen. Viele Surrealisten übernahmen de Chiricos figurativen Stil. In akribisch ausgeführten Arbeiten sollte die irrationale Welt des Traums und des Unbewussten konkrete Gestalt annehmen. Zahlreiche Werke zeigen menschliche Protagonisten, die zu Teilnehmern magischer Rituale werden. Auch Themen von Verwandlung und Metamorphose sowie die regenerativen Kräfte der Natur spielen eine bedeutende Rolle.
Magie gab dem Denken des Menschen immer neue Impulse. Sie befreite ihn von der Angst und verlieh ihm ein Gefühl der Macht, die Welt zu beherrschen, beflügelte seine Phantasie und hielt die Sehnsucht, immer Größeres und Höheres zu vollbringen, in seinem Geiste wach.
André Masson war ein Surrealist der ersten Stunde. In den 1930er Jahren fertigte er mehrere Werke, in denen der weibliche Körper mit magischer Erneuerung assoziiert sind. Sein Gemälde Ophelia nimmt auf die gleichnamige Heldin in Shakespeares Drama Hamlet Bezug.
Ophelia, eine junge Adelige, die in den Titelhelden von William Shakespeares Drama Hamlet verliebt ist, ertrinkt am Ende des Stückes in einem Zustand des Wahnsinns. André Masson verbindet das Motiv ihres Tods mit Anspielungen auf Wiedergeburt: Die Augen Ophelias sind als blühende Blumen gestaltet, während die Flöte spielende Libelle rechts auf Metamorphose und Wandlung verweist.
Das Bild spiegelt Massons Faszination für die mythische Vorstellung wider, dass mächtige Muttergöttinnen über den Kreislauf von Leben und Tod walten. Seine Ophelia ist die sinnbildliche Verkörperung einer solchen magischen, weiblichen Wirkkraft. Bedeutend ist die Wahl von Grün als dominantem Farbton: Es steht symbolisch für die regenerativen Kräfte der Natur sowie die Macht der Wiedergeburt.
In der Anfangsphase war der Surrealismus eine rein männliche Bewegung. Erst in den 1930er Jahren zog er vermehrt Künstlerinnen in seinen Bannkreis, darunter die englische Malerin Leonora Carrington. Die Darstellung einer rot leuchtenden Hexenküche fertigte Carrington als Hommage an ihre irische Großmutter, die sie im Kindesalter mit der Zauberwelt der keltischen Mythologie vertraut gemacht hatte.
Wie Leonora Carrington fand auch die spanische Künstlerin Remedios Varo in den 1930er Jahren Anschluss an den Surrealismus. Zahlreiche ihrer Arbeiten verbinden magische Szenarien mit Anspielungen auf Wissenschaft und Technik. Ihr ständiger Rückgriff auf phantastische Geräte und Maschinen ging auch auf Varos Kindheitserinnerungen an die Zeichnungen ihres Vaters zurück, der als Ingenieur für Hydraulik tätig gewesen war.
Viele Surrealisten beschäftigten sich mit der Symbolik der Alchemie – einer uralten Geheimwissenschaft, in deren Zentrum Prozesse materieller Umwandlung stehen. In der Alchemie wird die Fusion der Elemente und die damit verbundene Herstellung des Steins der Weisen durch die ‚Königliche Hochzeit‘ symbolisiert: die sexuelle Verschmelzung von Mann und Frau, Feuer und Wasser, goldener Sonne und silbernem Mond, rotem König und weißer Königin – für die Surrealisten ein symbolischer Ausdruck für die Allmacht der Begierde.
In seinem Gemälde Die Liebenden kombinierte Victor Brauner die Ikonographie zwei unterschiedlicher Tarotkarten: „Der Magier“ und „Die Priesterin“. Das Zusammentreffen der zaubermächtigen Figuren soll die Hochzeit des alchemistischen Königpaars symbolisieren. Darauf verweist auch das Zepter des Magiers, das die Attribute von goldener Sonne und silbernem Mond vereint.
Der nach New York emigrierte Max Ernst lernte Anfang der 1940er Jahre die US-amerikanische Künstlerin Dorothea Tanning kennen, die seine Partnerin wurde. Das gemeinsame Interesse an Okkultismus und Alchemie untermauerte den motivischen Dialog des Künstlerpaars. Sowohl Ernst als auch Tanning waren begeisterte Schachspieler und assoziierten die Figuren von König und Königin mit der tradierten Ikonographie der Alchemie.
Leonora Carrington widmete sich ebenfalls dem Motiv der „Königlichen Hochzeit". Wie Brauners Surrealist liegt auch Carringtons Arbeit Der Nekromant die Ikonographie der Tarotkarte „Der Magier" zugrunde. Mit Schwarz, Weiß und Rot dominieren die drei Symbolfarben alchemistischer Transformation das Bild. In den Kleidern des Nekromanten stehen Schwarz und Weiß auch für die Verschmelzung von Gegensätzen wie Oben und Unten, männlich und weiblich, Tag und Nacht – und damit für die „Königliche Hochzeit“.
Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer (…). Die Kunst, die gewiß nicht als l’art pour l’art begonnen hat, stand ursprünglich im Dienste von Tendenzen, die heute zum großen Teil erloschen sind. Unter diesen lassen sich mancherlei magische Absichten vermuten.
Während eines längeren Aufenthalts in Marseille fertigten acht Künstler 1941 eine neue Variation des Tarots: ein surrealistisches Kartenspiel voll okkulter und alchemistischer Symbolik. Die vier Farben – Stern, Flamme, Schlüsselloch und blutiges Rad – symbolisieren Traum, Liebe, Wissen und Revolution. Die Trumpfkarten zeigen nicht die tradierten Figuren von König, Königin und Bube, sondern die okkulten Sinnbilder Magier, Sirene und Genius.
Die Surrealisten waren fasziniert von der Vorstellung der Frau als irrationales und magisches Wesen, das mit den schöpferischen Kräften der Natur in geheimnisvoller Verbindung steht. Ihre positive Assoziation mit der Welt des Traums und des Unbewussten ging mit einer klischeebeladenen Stereotypisierung einher. Oft wird der weibliche Körper als erotisches Objekt zur Schau gestellt. Künstlerinnen wie Leonor Fini und Dorothea Tanning setzten sich kritisch mit dem Frauenbild ihrer männlichen Kollegen auseinander.
1936 organisierte das New Yorker Museum of Modern Art die Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealismus, mit der der Surrealismus seinen Siegeszug in den USA antrat. Dorothea Tanning gehörte zu den zahlreichen amerikanischen Künstlerinnen und Künstlern, die sich der Bewegung anschließen sollten. Ihr Gemälde Das Gästezimmer zeigt ein nächtliches Interieur, in dem zwei Geister ihren Spuk treiben. Die geöffnete Tür steht symbolisch für den Zugang in das Reich des Traums und der Phantasie.
Ich wollte das Auge in Orte einführen, die sich gleichzeitig verbergen, enthüllen und verwandeln und in denen plötzlich ein nie zuvor erblicktes Bild auftaucht – gerade so, als ob es ohne mein Zutun entstanden wäre.
In Tannings Werk Das magische Blumenspiel tritt ein junges Mädchen als selbstbewusste Protagonistin in Erscheinung und blickt dem Betrachter herausfordernd entgegen. In seiner Linken hält es ein weißes Wollknäuel, aus dem es kunstfertig eine scheinbar lebendige Blume fertigt. Auch das Mädchen ist in einem Zustand vegetativer Verwandlung: Sein Körper besteht aus einem Flickenteppich aus Blüten und sein grünes Haar und pflanzenartiger rechter Arm erinnern an die Figur eines Waldgeists oder einer Elfe. Die Wolle symbolisiert den Schicksalsfaden, den das Mädchen mutig und aktiv in die Hand nimmt.
Die in Argentinien geborene Malerin Leonor Fini verkehrte seit den 1930er Jahren im Kreis der surrealistischen Bewegung und verhandelte Themen von Weiblichkeit und Magie in ihren phantastischen Bildfindungen. Machtvolle Frauen oder weibliche Mischwesen dominieren die Motivik ihrer Gemälde. Oft treten sie als Teilnehmerinnen geheimnisvoller Rituale oder Bewohnerinnen urzeitlicher Landschaften in Erscheinung. In Finis Arbeiten steht die Frau im Zentrum eines pantheistischen Universums, wo sie über den Kreislauf von Leben und Tod regiert.
Viele Künstler ließen sich von dem okkulten Konzept endloser Analogien inspirieren, nach dem Mensch und Natur, Mikro- und Makrokosmos in einer dynamischen Verbindung stehen. In der magischen Vorstellung von unsichtbaren Kräften, die das Universum durchwirken, sahen sie eine Metapher für das Unbewusste und die Tiefen der menschlichen Seele. Zahlreiche ihrer Kompositionen kommen okkulten Landschaftsdarstellungen gleich, die der Dimension des Surrealen Ausdruck verleihen sollen.
Bereits in den 1930er Jahren hatten sich die Surrealisten in ihren Gemälden mit der Bedrohung durch den Faschismus auseinandergesetzt. Die politische Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, verarbeiteten sie metaphorisch in bedrohlichen Phantasielandschaften.
In den „psychologischen Morphologien“ Roberto Mattas sollen halluzinogene Strukturen zugleich auf die Tiefen der menschlichen Seele und auf die unermesslichen Weiten des Universums verweisen. Mit ihrer energetischen Aufladung sollten diese Bilder das „Schlachtfeld der Gefühle und Gedanken“ wiederspiegeln, das Matta mit dem Zweiten Weltkrieg assoziierte.
Die US-amerikanische Malerin Kay Sage hatte 1938 die Exposition Internationale du Surréalisme in Paris besucht und im gleichen Jahr die Bekanntschaft André Bretons gemacht. Die meisten ihrer Arbeiten zeigen phantastische architektonische Szenerien, die oft in undefinierbaren, futuristisch anmutenden Stadtlandschaften verortet sind.
Yves Tanguy ließ in vielen seiner Bilder mit seiner akribisch-veristischen Technik Mineralien-, Gesteins- oder Felsformationen vor sanft modulierten, horizontlosen Hintergründen erscheinen. Das Motiv geht auf Tanguys Kindheitserinnerungen an die bretonische Region des Finistère zurück: die Heimat seiner Eltern, die für ihre Dolmen und Menhire bekannt ist: monumentale Steinpfeiler prähistorischer Zeit, die mit Mythen, Ritualen und Opferkulten in Verbindung gebracht wurden.
Im Zweiten Manifest des Surrealismus (1929) forderte André Breton die „Okkultation“ seiner Bewegung: die programmatische Auseinandersetzung mit Okkultismus und Magie. Dabei lehnten die Surrealisten den Glauben an das Übernatürliche ab. Sie verstanden das Surreale als eine „absolute Realität“, in der die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit magisch aufgehoben ist.
Alles lässt uns glauben, dass es einen bestimmten geistigen Punkt gibt, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden. Indessen wird man in den Bemühungen des Surrealismus vergeblich einen anderen Beweggrund suchen als die Hoffnung, eben diesen Standort zu bestimmen.