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Surrealismus und Magie
Mit dem Manifest des Surrealismus (1924) begründete der französische Schriftsteller André Breton eine neue künstlerische und literarische Strömung. In ihrem Zentrum stand die Welt des Traums und des Irrationalen. Die Ausstellung Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne ist die erste umfassende Werkschau, die das Interesse der Surrealisten an Magie und Okkultismus in den Blick nimmt.
Meisterwerke von weltbekannten Künstlern wie Giorgio de Chirico, Salvador Dalí, Max Ernst und René Magritte werden in der Schau gezielt neben Schlüsselarbeiten von Malern gezeigt, die es für das große Publikum zu entdecken gilt, darunter Victor Brauner, Enrico Donati, Jacques Hérold, Wolfgang Paalen und Kurt Seligmann. Darüber hinaus beleuchtet die Ausstellung den zentralen Beitrag von Frauen, der in Arbeiten von Künstlerinnen wie Leonora Carrington, Leonor Fini, Jacqueline Lamba, Kay Sage, Dorothea Tanning und Remedios Varo eindrucksvoll zum Ausdruck kommt.
Zahlreiche Künstler waren mit dem Werk Sigmund Freuds vertraut, etwa seinem Buch Totem und Tabu (1913). Dort hatte Freud das Grundprinzip der Magie als den Glauben an die „Allmacht der Gedanken“ definiert. Die Idee der menschlichen Phantasie als einer magischen Kraft, die aktiv auf die Realität einwirken kann, faszinierte die Surrealisten. Entsprechend propagierten sie das Selbstbild des Künstlers als Zauberer, Magier und Alchemist, der dank seiner Phantasie neue, illusorische Welten heraufbeschwören kann.
Der Prolog zur Ausstellung zeigt, welche Anregung die Surrealisten aus der Ideengeschichte der Magie bezogen und welche okkulte Symbolik sie ihren phantastischen Bildfindungen zugrunde legten.
Ich glaube an die zukünftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.
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Roland Penrose: Sehen ist Glauben, 1937, The Penrose Collection
© Lee Miller Archives, England 2022. Alle Rechte vorbehalten.
Abbildung: Roland Penrose. Lee Miller Archives, England 2022. Alle Rechte vorbehalten. www.leemiller.co.uk
Ein wichtiger Vorläufer des Surrealismus war Giorgio de Chirico. Mit seiner Metaphysischen Malerei wollte er der Rätselhaftigkeit des menschlichen Lebens Ausdruck verleihen. Viele Surrealisten übernahmen de Chiricos figurativen Stil. In akribisch ausgeführten Arbeiten sollte die irrationale Welt des Traums und des Unbewussten konkrete Gestalt annehmen. Zahlreiche Werke zeigen menschliche Protagonisten, die zu Teilnehmern magischer Rituale werden. Auch Themen von Verwandlung und Metamorphose sowie die regenerativen Kräfte der Natur spielen eine bedeutende Rolle.

Giorgio de Chirico: Das Gehirn des Kindes, 1914, Moderna Museet, Stockholm
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Moderna Museet, Stockholm
In de Chiricos Gehirn des Kindes stehen die geschlossenen Augen des nackten Mannes für die Welt des Traums und der Phantasie, aber auch für Innenschau und Hellseherei.
Magie gab dem Denken des Menschen immer neue Impulse. Sie befreite ihn von der Angst und verlieh ihm ein Gefühl der Macht, die Welt zu beherrschen, beflügelte seine Phantasie und hielt die Sehnsucht, immer Größeres und Höheres zu vollbringen, in seinem Geiste wach.

Max Ernst: Einkleidung der Braut, 1940, Peggy Guggenheim Collection, Venedig (Solomon R. Guggenheim Foundation, New York)
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Solomon R. Guggenheim Foundation, New York, Photo: David Heald
Sein Werk Einkleidung der Braut fertigte Max Ernst als eine Hommage an seine Partnerin, die englische Surrealistin Leonora Carrington. Inspiration konnte er aus tradierten Hexendarstellungen der Renaissance beziehen. Wie in einem magischen Ritual wird die nackte Verführerin hier in einen majestätischen Federmantel gehüllt. Als Kernfarbe der Magie assoziiert das leuchtende Rot seine Trägerin mit großer Zaubermacht.
André Masson war ein Surrealist der ersten Stunde. In den 1930er Jahren fertigte er mehrere Werke, in denen der weibliche Körper mit magischer Erneuerung assoziiert sind. Sein Gemälde Ophelia nimmt auf die gleichnamige Heldin in Shakespeares Drama Hamlet Bezug.
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Ophelia, eine junge Adelige, die in den Titelhelden von William Shakespeares Drama Hamlet verliebt ist, ertrinkt am Ende des Stückes in einem Zustand des Wahnsinns. André Masson verbindet das Motiv ihres Tods mit Anspielungen auf Wiedergeburt: Die Augen Ophelias sind als blühende Blumen gestaltet, während die Flöte spielende Libelle rechts auf Metamorphose und Wandlung verweist.
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André Masson: Ophelia, 1937, The Baltimore Museum of Art
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: The Baltimore Museum of Art, Photo: Mitro Hood
Das Bild spiegelt Massons Faszination für die mythische Vorstellung wider, dass mächtige Muttergöttinnen über den Kreislauf von Leben und Tod walten. Seine Ophelia ist die sinnbildliche Verkörperung einer solchen magischen, weiblichen Wirkkraft. Bedeutend ist die Wahl von Grün als dominantem Farbton: Es steht symbolisch für die regenerativen Kräfte der Natur sowie die Macht der Wiedergeburt.
In der Anfangsphase war der Surrealismus eine rein männliche Bewegung. Erst in den 1930er Jahren zog er vermehrt Künstlerinnen in seinen Bannkreis, darunter die englische Malerin Leonora Carrington. Die Darstellung einer rot leuchtenden Hexenküche fertigte Carrington als Hommage an ihre irische Großmutter, die sie im Kindesalter mit der Zauberwelt der keltischen Mythologie vertraut gemacht hatte.

Leonora Carrington: Großmutter Moorheads aromatische Küche, 1975, The Charles B. Goddard Center for the Visual and Performing Arts, Ardmore, Oklahoma, USA
© VG Bild-Kunst, 2022
Photo: Cory D. Blankenship
Carrington verband die Zubereitung von Speisen mit magischen Riten. So erinnert die steinerne Anrichte hier an einen heidnischen Altar. Umgeben ist er von einem schützenden Bannkreis, der mit magischen Schriftzeichen versehen ist. Bei der weißen Gans handelt es sich vermutlich um ein symbolisches Begleittier der zaubermächtigen „Weißen Göttin“.
Wie Leonora Carrington fand auch die spanische Künstlerin Remedios Varo in den 1930er Jahren Anschluss an den Surrealismus. Zahlreiche ihrer Arbeiten verbinden magische Szenarien mit Anspielungen auf Wissenschaft und Technik. Ihr ständiger Rückgriff auf phantastische Geräte und Maschinen ging auch auf Varos Kindheitserinnerungen an die Zeichnungen ihres Vaters zurück, der als Ingenieur für Hydraulik tätig gewesen war.
Eine junge blonde Frau bewohnt einen Turm, der hoch über die Wolken hinausragt. Sie nährt einen kränklichen Sichelmond.
Varos Gemälde bestechen durch ihre feinmalerische Ausführung. Ihr Uhrmacher ist Wissenschaftler und Zauberer. Bei der Katze unten rechts könnte es sich um sein magisches Begleittier handeln.
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
Victor Brauner: Der Stein der Weisen, 1940, Musée d’Art Moderne et Contemporain de Saint-Etienne Métropole
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Photo: Cyrille Cauvert
Viele Surrealisten beschäftigten sich mit der Symbolik der Alchemie – einer uralten Geheimwissenschaft, in deren Zentrum Prozesse materieller Umwandlung stehen. In der Alchemie wird die Fusion der Elemente und die damit verbundene Herstellung des Steins der Weisen durch die ‚Königliche Hochzeit‘ symbolisiert: die sexuelle Verschmelzung von Mann und Frau, Feuer und Wasser, goldener Sonne und silbernem Mond, rotem König und weißer Königin – für die Surrealisten ein symbolischer Ausdruck für die Allmacht der Begierde.

Victor Brauner: Der Surrealist, 1947, Peggy Guggenheim Collection, Venedig
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Solomon R. Guggenheim Foundation, Photo: David Heald
Victor Brauners Der Surrealist baut auf der Ikonographie des Tarots auf – ein Kartenspiel, das seit dem 18. Jahrhundert zur Wahrsagung verwendet wurde. Zur Vorlage nahm er die Karte „Der Magier“, die Willenskraft und Kreativität symbolisiert. Die vier Attribute der Figur – Zauberstab, Münzen, Kelch und Dolch – stehen für die alchemistische Macht über die vier Elemente und deuten an, dass der Magier im Besitz der Unsterblichkeit ist.
In seinem Gemälde Die Liebenden kombinierte Victor Brauner die Ikonographie zwei unterschiedlicher Tarotkarten: „Der Magier“ und „Die Priesterin“. Das Zusammentreffen der zaubermächtigen Figuren soll die Hochzeit des alchemistischen Königpaars symbolisieren. Darauf verweist auch das Zepter des Magiers, das die Attribute von goldener Sonne und silbernem Mond vereint.

Victor Brauner: Die Liebenden, 1947, Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne/Centre de création industrielle
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: © bpk, Berlin: CNAC-MNAM / Photo: Philippe Migeat
Brauners Gemälde Die Liebenden war André Breton gewidmet und ein Kernstück der internationalen Surrealismus-Ausstellung, die 1947 in Paris stattfand. Die Werkschau war ganz auf Themen von Mythos, Magie und alchemistischer Regeneration fokussiert.
Der nach New York emigrierte Max Ernst lernte Anfang der 1940er Jahre die US-amerikanische Künstlerin Dorothea Tanning kennen, die seine Partnerin wurde. Das gemeinsame Interesse an Okkultismus und Alchemie untermauerte den motivischen Dialog des Künstlerpaars. Sowohl Ernst als auch Tanning waren begeisterte Schachspieler und assoziierten die Figuren von König und Königin mit der tradierten Ikonographie der Alchemie.

Max Ernst: The King Playing with the Queen, 1944, The Israel Museum, Jerusalem
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: The Israel Museum, Jerusalem, Photo: Avshalom Avital
Ernsts 1944 entstandene Skulptur Der König, der mit der Königin spielt kann als ein symbolisches Selbstportrait gedeutet werden, in dem Max Ernst mit Dorothea Tanning als seiner alchemistischen Königin „spielt“. Dem Motiv wohnen auch erotische und sexuelle Konnotationen inne.
Leonora Carrington widmete sich ebenfalls dem Motiv der „Königlichen Hochzeit". Wie Brauners Surrealist liegt auch Carringtons Arbeit Der Nekromant die Ikonographie der Tarotkarte „Der Magier" zugrunde. Mit Schwarz, Weiß und Rot dominieren die drei Symbolfarben alchemistischer Transformation das Bild. In den Kleidern des Nekromanten stehen Schwarz und Weiß auch für die Verschmelzung von Gegensätzen wie Oben und Unten, männlich und weiblich, Tag und Nacht – und damit für die „Königliche Hochzeit“.

Leonora Carrington, Der Nekromant, um 1950, Privatsammlung, courtesy Weinstein Gallery, San Francisco
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Weinstein Gallery, San Francisco (Photos: Nicholas Pishvanov und Carter Andereck)
Leonora Carringtons Zauberer, ein Totenbeschwörer, möchte das in einem gläsernen Gefäß eingeschlossene Tier zum Leben erwecken. Die blauen Eier symbolisieren Wiedergeburt und Verjüngung, die leuchtenden Schmetterlinge Wandlung und Metamorphose.
Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer (…). Die Kunst, die gewiß nicht als l’art pour l’art begonnen hat, stand ursprünglich im Dienste von Tendenzen, die heute zum großen Teil erloschen sind. Unter diesen lassen sich mancherlei magische Absichten vermuten.

Während eines längeren Aufenthalts in Marseille fertigten acht Künstler 1941 eine neue Variation des Tarots: ein surrealistisches Kartenspiel voll okkulter und alchemistischer Symbolik. Die vier Farben – Stern, Flamme, Schlüsselloch und blutiges Rad – symbolisieren Traum, Liebe, Wissen und Revolution. Die Trumpfkarten zeigen nicht die tradierten Figuren von König, Königin und Bube, sondern die okkulten Sinnbilder Magier, Sirene und Genius.

Jacqueline Lamba: Ass der Revolution. Rad, 1941, Musée Cantini, Marseille
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: RMN-Grand Palais / Photo: Jean Bernard
Jacqueline Lamba, André Bretons Partnerin, war als einzige Frau an der Herstellung des Jeu de Marseille beteiligt. Die Wahl der Materialien und die motivische Umsetzung der einzelnen Karten konnten die Künstler frei wählen. Das Rad steht im traditionellen Tarot für die Schicksalsgöttin Fortuna. Hier wird es zu einem Symbol revolutionärer Neuerung.

Óscar Domínguez: Freud, Magier des Traums. Stern, 1941, Musée Cantini, Marseille
© VG Bild-Kunst, 2022
Abbildung: RMN-Grand Palais / Photo: Jean Bernard
Die Schriften Sigmund Freuds waren eine wichtige Inspirationsquelle des Surrealismus. Óscar Domínguez feierte den Psychoanalytiker als „Magier des Traums“. Rose und Pistole stehen für Eros und Thanatos, den Liebes- und den Todestrieb. Die Darstellung von Freuds Körper und seiner Kleidung beinhaltet zahlreiche Anspielungen auf Sexualität und Begierde.

Victor Brauner: Hélène Smith, Sirene des Wissens. Schloss, 1941, Musée Cantini, Marseille
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: RMN-Grand Palais / Photo: Jean Bernard
Im 19. Jahrhundert kamen Séancen in Mode – spiritistische Sitzungen, bei denen sogenannte Medien vermeintlich in Kontakt mit der Geisterwelt traten. Victor Brauner wählte eines der berühmtesten dieser Medien, die Schweizerin Hélène Smith, als Verkörperung seiner „Sirene des Wissens“.

Jacqueline Lamba: Baudelaire, Genie der Liebe. Flamme, 1941, Musée Cantini, Marseille
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: RMN-Grand Palais / Photo: Jean Bernard
Die Surrealisten waren fasziniert von der symbolistischen Lyrik des 19. Jahrhunderts. Die Wahl von Charles Baudelaire als „Genius der Liebe“ war vermutlich von den Schriften André Bretons beeinflusst. In seinem Manifest des Surrealismus (1924) hatte er den französischen Dichter als einen Vorläufer surrealistischer Literatur gefeiert.
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Leonora Carrington: Nacht des 8., 1987, The Penrose Collection
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: courtesy Lee Miller Archives, England 2022. Alle Rechte vorbehalten. www.leemiller.co.uk
Die Surrealisten waren fasziniert von der Vorstellung der Frau als irrationales und magisches Wesen, das mit den schöpferischen Kräften der Natur in geheimnisvoller Verbindung steht. Ihre positive Assoziation mit der Welt des Traums und des Unbewussten ging mit einer klischeebeladenen Stereotypisierung einher. Oft wird der weibliche Körper als erotisches Objekt zur Schau gestellt. Künstlerinnen wie Leonor Fini und Dorothea Tanning setzten sich kritisch mit dem Frauenbild ihrer männlichen Kollegen auseinander.

Paul Delvaux: Anbruch des Tages, 1937, Peggy Guggenheim Collection, Venedig (Solomon R. Guggenheim Foundation, New York)
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Solomon R. Guggenheim Foundation, New York, Photo: David Heald
Die weiblichen Figuren in Paul Delvaux' Anbruch des Tages sind Mischwesen: halb Baumstamm, halb Mensch. Ihre Verankerung im Boden verweist auf ihre magische Anbindung an das Reich der Natur. Delvaux zeigt die Gruppe als einen Reigen, der sich um ein altarähnliches Objekt versammelt hat. Die Ikonographie ist ein Fingerzeig auf Albrecht Dürers Kupferstich Die vier Hexen aus dem Jahr 1497.

René Magritte: Schwarze Magie, 1945, Königliche Kunstmuseen Belgiens, Brüssel
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Photo: J. Geleyns
In René Magrittes Bild Schwarze Magie wechselt der Körper der nackten Frau seine Farbe von einem realistischen Hautton zu einem leuchtenden Blau. Damit verweist Magritte auf ihre symbolische Verbundenheit mit Himmel und Meer. Die idealisierte Figur erinnert an antike Statuen der Liebesgöttin Venus.
1936 organisierte das New Yorker Museum of Modern Art die Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealismus, mit der der Surrealismus seinen Siegeszug in den USA antrat. Dorothea Tanning gehörte zu den zahlreichen amerikanischen Künstlerinnen und Künstlern, die sich der Bewegung anschließen sollten. Ihr Gemälde Das Gästezimmer zeigt ein nächtliches Interieur, in dem zwei Geister ihren Spuk treiben. Die geöffnete Tür steht symbolisch für den Zugang in das Reich des Traums und der Phantasie.
Ich wollte das Auge in Orte einführen, die sich gleichzeitig verbergen, enthüllen und verwandeln und in denen plötzlich ein nie zuvor erblicktes Bild auftaucht – gerade so, als ob es ohne mein Zutun entstanden wäre.

Dorothea Tanning: Das Gästezimmer, 1950-52, Privatsammlung, Courtesy Malingue S.A.
© The Estate of Dorothea Tanning / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Courtesy Malingue S.A., Photo: Florent Chevrot
Die unheimliche Atmosphäre in Dorothea Tannings Das Gästezimmer verweist auf ihre Faszination für die Literatur der Schauerromantik.
In Tannings Werk Das magische Blumenspiel tritt ein junges Mädchen als selbstbewusste Protagonistin in Erscheinung und blickt dem Betrachter herausfordernd entgegen. In seiner Linken hält es ein weißes Wollknäuel, aus dem es kunstfertig eine scheinbar lebendige Blume fertigt. Auch das Mädchen ist in einem Zustand vegetativer Verwandlung: Sein Körper besteht aus einem Flickenteppich aus Blüten und sein grünes Haar und pflanzenartiger rechter Arm erinnern an die Figur eines Waldgeists oder einer Elfe. Die Wolle symbolisiert den Schicksalsfaden, den das Mädchen mutig und aktiv in die Hand nimmt.

Dorothea Tanning: Das magische Blumenspiel, 1941, Privatsammlung, South Dakota
© The Estate of Dorothea Tanning / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Dorothea Tannings Faszination mit Kindern als Protagonisten in magischen, märchenhaften Geschehnissen war von ihrer Faszination mit Lewis Carrolls Erzählung Alice im Wunderland (1865) verbunden.
Die in Argentinien geborene Malerin Leonor Fini verkehrte seit den 1930er Jahren im Kreis der surrealistischen Bewegung und verhandelte Themen von Weiblichkeit und Magie in ihren phantastischen Bildfindungen. Machtvolle Frauen oder weibliche Mischwesen dominieren die Motivik ihrer Gemälde. Oft treten sie als Teilnehmerinnen geheimnisvoller Rituale oder Bewohnerinnen urzeitlicher Landschaften in Erscheinung. In Finis Arbeiten steht die Frau im Zentrum eines pantheistischen Universums, wo sie über den Kreislauf von Leben und Tod regiert.
Fini war in Italien aufgewachsen und begeisterte sich für die Kunst der Renaissance und des Manierismus. Die feinmalerische Ausführung ihrer Gemälde ist eine Anlehnung an altmeisterliche Vorbilder.
Fini spielt hier auf die Rolle von Muttergöttinnen an, die eigenmächtig über Leben und Tod, Werden und Vergehen walten.
Mit ihrer „Kombination aus Halb-Tier, Halb-Mensch“ beschrieb Fini die Sphinx als ihr Ideal, assoziiert mit Weisheit und Macht.

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Max Ernst: Der zu Tode erschrockene Planet, 1942, Tel Aviv Museum of Art
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Tel Aviv Museum of Art
Viele Künstler ließen sich von dem okkulten Konzept endloser Analogien inspirieren, nach dem Mensch und Natur, Mikro- und Makrokosmos in einer dynamischen Verbindung stehen. In der magischen Vorstellung von unsichtbaren Kräften, die das Universum durchwirken, sahen sie eine Metapher für das Unbewusste und die Tiefen der menschlichen Seele. Zahlreiche ihrer Kompositionen kommen okkulten Landschaftsdarstellungen gleich, die der Dimension des Surrealen Ausdruck verleihen sollen.

Max Ernst: Tag und Nacht, 1941-42, The Menil Collection, Houston
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: The Menil Collection, Houston, Photo: Hickey-Robertson
Im Surrealismus stehen Tag und Nacht für Wirklichkeit und Traum, Reales und Imaginäres. Max Ernsts Gemälde thematisiert die von den Surrealisten erhoffte Auflösung dieser Gegensätze in einer höheren Realität oder Surrealität. Durch die magisch leuchtenden Leinwände dringt das Hell des Tages in die nächtliche Phantasielandschaft.
Bereits in den 1930er Jahren hatten sich die Surrealisten in ihren Gemälden mit der Bedrohung durch den Faschismus auseinandergesetzt. Die politische Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, verarbeiteten sie metaphorisch in bedrohlichen Phantasielandschaften.

Wolfgang Paalen: Magnetische Stürme, 1938, Privatsammlung
© Succession Wolfgang Paalen und Eva Sulzer
Abbildung: Weinstein Gallery, San Francisco, Photo: Nicholas Pishvanov und Carter Andereck
In Wolfgang Paalens Bild wirken die gespenstischen Gewitterformationen wie eine abstrakte Darstellung des Wilden Heers – furchteinflößende Geister, die der Legende nach auf nächtlichen Sturmwolken reiten. Ihr Anblick sollte bevorstehenden Krieg verheißen. Das Gemälde entstand in dem gleichen Jahr, in dem Hitler Paalens österreichisches Heimatland annektierte.
In den „psychologischen Morphologien“ Roberto Mattas sollen halluzinogene Strukturen zugleich auf die Tiefen der menschlichen Seele und auf die unermesslichen Weiten des Universums verweisen. Mit ihrer energetischen Aufladung sollten diese Bilder das „Schlachtfeld der Gefühle und Gedanken“ wiederspiegeln, das Matta mit dem Zweiten Weltkrieg assoziierte.

Roberto Matta: Jahre der Angst, 1941, Solomon R. Guggenheim Museum, New York
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: Solomon R. Guggenheim Foundation, New York, Photo: Kristopher McKay
Anfang der 1940er Jahre war Roberto Matta in die USA geflohen. Mit dem grellen Farbschema und den lodernden Flammen mutet Jahre der Angst wie eine futuristische Höllendarstellung an. Die komplexe Raumgestaltung ist auf Mattas Ausbildung zum Architekten zurückzuführen.
Die US-amerikanische Malerin Kay Sage hatte 1938 die Exposition Internationale du Surréalisme in Paris besucht und im gleichen Jahr die Bekanntschaft André Bretons gemacht. Die meisten ihrer Arbeiten zeigen phantastische architektonische Szenerien, die oft in undefinierbaren, futuristisch anmutenden Stadtlandschaften verortet sind.

Kay Sage: Morgen ist nie, 1955, The Metropolitan Museum of Art, New York
© The Estate of Kay Sage / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Abbildung: The Metropolitan Museum of Art
In Morgen ist nie ragen vier imposante Holzgerüste weit über die Wolken hinaus. Drei der komplexen Gitterkonstruktionen sind von riesigen Leinentüchern ausgefüllt. Die sich windenden Stoffe wirken wie belebte Wesen, die in einem magischen Gefängnis eingesperrt sind. Das Bild entstand kurz nach dem Tod von Sages Mann, dem surrealistischen Maler Yves Tanguy. Lassen sich die Stoffe auch als Leichentücher und somit als Symbole von Tod und Vergänglichkeit deuten, so beschwören sie zugleich die Idee eines geisterhaften Spuks.
Yves Tanguy ließ in vielen seiner Bilder mit seiner akribisch-veristischen Technik Mineralien-, Gesteins- oder Felsformationen vor sanft modulierten, horizontlosen Hintergründen erscheinen. Das Motiv geht auf Tanguys Kindheitserinnerungen an die bretonische Region des Finistère zurück: die Heimat seiner Eltern, die für ihre Dolmen und Menhire bekannt ist: monumentale Steinpfeiler prähistorischer Zeit, die mit Mythen, Ritualen und Opferkulten in Verbindung gebracht wurden.
Tanguy war fasziniert von den Menhiren und Dolmen der Bretagne. Die Gesteinsformationen seiner Traumlandschaften wirken seltsam belebt. Sie verbildlichen die Vorstellung, dass natürliche Gegenstände von geisterhaften Kräften beseelt sind.
In den 1940er Jahren schuf Tanguy mehrere Bilder, die auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs zurückgehen. Die scharfen Glaskanten und Konfigurationen stehen für Aggression und Gewaltbereitschaft.
Mit ihrer rätselhaften und unheimlichen Atmosphäre spiegeln Tanguys Arbeiten den Einfluss von Giorgio de Chirico wider.

Leonora Carrington: Die Vergnügungen des Dagobert, 1945, Privatsammlung
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Photo: Tim Nighswander/IMAGING4ART
Der Titel nimmt auf den sagenumwobenen Merowingerkönig Dagobert Bezug, der der Legende nach aus einer übernatürlichen Blutlinie stammte. Carringtons Bild verbindet stilistische Anleihen aus spätmittelalterlicher Kunst mit alchemistischen Anspielungen auf die Macht der vier Elemente. Das Gemälde führte sie in der traditionellen Temperatechnik aus, bei der die Pigmente mit Eigelb angerührt werden.
Im Zweiten Manifest des Surrealismus (1929) forderte André Breton die „Okkultation“ seiner Bewegung: die programmatische Auseinandersetzung mit Okkultismus und Magie. Dabei lehnten die Surrealisten den Glauben an das Übernatürliche ab. Sie verstanden das Surreale als eine „absolute Realität“, in der die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit magisch aufgehoben ist.
Alles lässt uns glauben, dass es einen bestimmten geistigen Punkt gibt, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden. Indessen wird man in den Bemühungen des Surrealismus vergeblich einen anderen Beweggrund suchen als die Hoffnung, eben diesen Standort zu bestimmen.