Wolken und Licht
„Ich male keine Kühe, sondern Lichteffekte“. Eine erstaunliche Aussage für den niederländischen Künstler Willem Maris, für die niederländische Kunst generell, in der das Kühemalen einer großen Tradition folgt. Wie kommt es nun, dass Mitte des 19. Jahrhunderts plötzlich ein Niederländer das Licht zum Hauptdarsteller macht?
Diese und weitere Fragen beantwortet die Ausstellung Wolken und Licht – Impressionismus in Holland. So viel sei schon verraten: Um das Licht, vor allem das Sonnenlicht, zum Hauptthema zu machen, müssen Maris und seine Malerkollegen viel Zeit draußen verbringen, unter freiem Himmel.
Das wohl berühmteste Bild von Willem Maris, in dem Licht auf Kühe trifft, Kälber an der Tränke, hat er (einer von drei malenden Brüdern) bereits 1863 als 19-Jähriger brillant ausgeführt – sein Gemälde Sommer, noch mehr von Licht durchflutet und reifer, entsteht mehr als dreißig Jahre später.
Die Kuh ist für das Licht da, das an dem Tier vorbei und über es hinweggleitet – das Licht ist nicht für die Kuh.
Die Ausstellung Wolken und Licht untersucht die Entwicklung des Impressionismus in Holland von 1850 bis 1920. Erstmals macht sie in Deutschland dieses nach dem 17. Jahrhundert zweite große Zeitalter der niederländischen Malerei im vollen Umfang zugänglich.
Die Ausstellung führt die Entstehung der niederländischen Freilichtmalerei im Wald vor Augen – und wie sich daraus die Haager Schule mit ihrem silbergrauen Wolkenlicht entwickelt, der schillernd farbige Amsterdamer Stadtimpressionismus und der sogenannte Luminismus, in dem die Expressivität der Farbe im Fokus steht.
Impressionismus in Holland zeigt mehr als 100 Gemälde von insgesamt 39 zumeist in Deutschland bislang kaum bekannten, weil von deutschen Museen nicht gesammelten Malerinnen und Malern.
Die Ausstellung verrät auch, was es mit den vielen Mühlendarstellungen in der niederländischen Kunst auf sich hat – und reicht bis in die Moderne. So schult sich nicht nur Vincent van Gogh, wenn auch sehr eigenwillig, an den neuen impressionistischen Entwicklungen. Auch ein anderer der weltweit berühmtesten Künstler ist ohne sie schwer denkbar: der in Amersfoort geborene Piet Mondrian.
Die neuen Entwicklungen der niederländischen Malerei beginnen unter freiem Himmel, im Wald von Oosterbeek bei Arnhem. Dort entsteht eine Künstlerkolonie – ganz ähnlich wie zuvor im französischen Wald von Fontainebleau bei Barbizon, wo Camille Corot und viele andere die Natur neu entdecken. Später sollten auch Künstler der sogenannten Haager Schuler zu ihnen stoßen, Willem Roelofs und Jacob Maris beispielsweise. Doch erstmal bleiben sie in den Niederlanden.
Einer der ersten Freiluftmaler in Oosterbeek: Johannes Bilders. Er setzt mit seinen atmosphärisch-realistischen Baum- und Teichbildern einen – von Ruisdael aus dem 17. Jahrhundert inspirierten – neuen Maßstab.
Von dieser neuen Direktheit geprägt, erkennt Bilders‘ Sohn Gerard, ebenfalls Künstler, schon als 23-Jähriger:
Wer sich einmal entschieden hat, Landschaftsmaler zu werden, muss möglichst viel im Freien leben, unter Bäumen und im Gras essen und trinken, lesen und schlafen.
Da hat er recht, denn bei der neuen Freilichtmalerei – plein air auf Französisch – geht es nicht um idealisierende Kompositionen, die mythische oder biblische Themen in die Landschaft einfügen. Es geht ganz real um das, was da ist: Licht und Schatten, Bäume und Gewässer, Pflanzen und Tiere.
Menschenfiguren sind nahezu irrelevant für diese niederländische Erkundung des Draußenmalens, die auch spätere Künstler der Haager Schule prägt. Sich teils um Johannes Bilders scharend, kommen von den 1840ern an nach Oosterbeek: Willem Roelofs, Paul Joseph Constantin Gabriël, Anton Mauve und die Gebrüder Maris: Jacob, Matthijs und Willem. 1866 reisen der Kunstsammler Hendrik Willem Mesdag und seine Frau Sientje Mesdag-van Houten an, die sich zu Künstlern ausbilden.
Der neue Realismus geht mit einer neuen Mobilität einher. Die 1840 aufkommende Farbtube schützt die Farbe vorm Austrocknen. So können die Künstler mit einem Malkasten voller Tuben und Pinsel und einer tragbaren Staffelei in die Landschaft ziehen. Beim Malen vor Ort finden sie zumeist tief empfundene und anrührende, aber auch unspektakuläre Motive. Sie sind von der Stimmung geprägt, „stemming“ auf Niederländisch: ein inniges Naturerlebnis, eingebettet in die Landschaft.
Einen Höhepunkt erfährt die niederländische Waldlandschaft noch einmal mit Van Gogh in den 1880ern und dann mit Jan Sluijters und Mondrian im 20. Jahrhundert. Wobei sich der Fokus während der Blütezeit der Haager Schule erstmal deutlich verlagert: in die Weite der flachen niederländischen Landschaft.
Um 1870 lassen sich viele Landschaftsmaler in Den Haag nieder, wo sich ein produktives Kunstklima bildet – der Handel und die Künstler organisieren sich. Beliebte Motive werden die nahegelegenen Nordseestrände und die grünen Polder, also das flache Gelände hinter den Deichen. Wiesen und Kühe, Kanäle und Windmühlen, eine nationalstolze Verherrlichung der holländischen Alltagslandschaft.
Himmel und Licht sind die größten Zauberer. Der Himmel bestimmt das Gemälde. Maler können nie genug nach dem Himmel schauen.
Die geheimnisvolle Dunkelheit, das bläuliche, fast schwarze Grün des Waldes: Dies alles verschwindet aus der Malerei der Haager Schule.
Sind die Waldbilder von Böden und Stämmen dominiert – ein Bildtypus heißt passenderweise sous-bois, Unterholz – haben die Gemälde der Haager Schule zumeist einen niedrigen Horizont, wenig Boden und einen hohen Himmel.
Sie fangen das silbrig graue Licht ihrer nordischen Heimat ein, wirken dabei ganz anders als das Farbspektakel der französischen Impressionisten. So wird die Haager Schule von Zeitgenossen auch „graue Schule“ genannt, man feiert ihre „Poesie des Graus“.
Der Himmel nimmt nahezu zwei Drittel der Bildfläche ein, die Wolkendecke ist eine Kulmination dunkler Grautöne, die Stimmung diesig, dunstig, nasskalt. Salatgärten. Und das war‘s dann auch schon. Unspektakulärer kann ein Bild nicht mehr sein. Dagegen wirkt Maris‘ eigentlich auch sehr reduziertes Fischerboot richtiggehend wimmelig:
Auch dieses Bild zeigt sehr schön, warum man von der „grauen Schule“ spricht. Es beweist zudem, warum die Malerei dieser Jahre in den Niederlanden eine impressionistische sein kann: silbriges Licht beherrscht die Szene. Wasser und Sand wirken wie ein Spiegel, der die Silhouette des Schiffes und das Himmels-Grau wiedergibt, die Helligkeitsstufe erhöht.
Die Haager Maler ignorieren die Merkmale der beginnenden Industrialisierung, die Eisenbahnlinien, Fabriken, Fabrikschlote, Dampfschiffe und Telegrafenleitungen. Sie ignorieren auch die rasant wachsenden Städte – Den Haag wächst zwischen 1850 und 1900 von 70 000 auf 200 000 Einwohner.
Doch es gibt ein paar Werke, die die neue industrielle Zeit und ihre Merkmale abbilden, so Jan Hendrik Weissenbruchs Ansicht von Haarlem: Man sieht Fabrikschornsteine mit ihren Rauchfahnen, die Dampfwolke einer Eisenbahn. Das ist die erste Bahnlinie der Niederlande, zwischen Amsterdam und Haarlem, eröffnet 1839.
Einige Künstler der Haager Schule malen das einfache Leben. Jozef Israëls, Freund und Beeinflusser des deutschen Impressionisten Max Liebermann, nimmt die harte Existenz der Fischer und Bauern in den Blick.
Während Israëls sich am echten Leben abarbeitet – Liebermann schätzt das besonders – stößt er einen neuen Trend an: Er malt erstmals in der Moorlandschaft des Dorfes Laren, mit der Eisenbahn von Amsterdam gut zu erreichen. Bald wird Laren, wie vormals Oosterbeek, eine Künstlerkolonie. 1885 zieht beispielsweise Anton Mauve dorthin, nimmt sich das bäuerliche Umfeld vor.
Jacob Maris geht indes regelrecht in einen Wettstreit mit dem Himmel. Als er einen besonders schönen sieht, soll er ausgerufen haben:
Also wirklich! Das kann ich besser.
Fast alle Maler der Haager Schule sind für kürzere oder längere Zeit im Wald von Oosterbeek gewesen. Um 1870 gehen sie dazu über, die Polderlandschaft in der Umgebung Den Haags zu erfassen. Doch wer sind diese Maler?
Jacob Maris kehrt nach sechsjährigem Frankreichaufenthalt 1871 in seine Geburtsstadt Den Haag zurück, wo auch seine Brüder Willem und Matthijs teils arbeiten und leben. Bereits 1869 haben sich dort Willem Mesdag und Sientje Mesdag-van Houten niedergelassen, ebenfalls 1871 folgen Jozef Israëls und Anton Mauve.
Nicht alle Maler, die man der Haager Schule zurechnet, wohnen in Den Haag. Willem Roelofs lebt von 1847 an für vierzig Jahre in Brüssel. Von dort aus reist er jeweils in den Sommermonaten zum Malen nach Holland. Erst 1887 zieht er, inzwischen 65-jährig, nach Den Haag.
Paul Joseph Constantin Gabriël, ab 1860 ebenfalls in Brüssel, kommt nur im Sommer zum Malen nach Holland; erst 1884 lässt er sich in Scheveningen bei Den Haag nieder. Wie sehr er sich mit seinen Gemälden der Polderlandschaft identifiziert, zeigt seine 1900 auf Französisch notierte Selbstbezeichnung als „Peintre Paysagiste des Polder Hollandais“.
Nicht zu vergessen Jan Hendrik Weissenbruch, den gebürtigen Den Haager, der im Vergleich eher hell als grau malt – und ebenso wenig Johan Barthold Jongkind, den großen, in Paris lebenden Botschafter der niederländischen Kunst; er reist zum Arbeiten immer wieder an die heimische Küste.
Den Haagern gelingt es auch so gut, ihre Malerei zu etablieren, weil sie sich zu einem Verein zusammenschließen. Pulchri Studio heißt er, übersetzt „Aus Eifer für das Schöne“. Eine zeitgenössische Kunstszene nebst Handel ist erst im Entstehen begriffen, wächst aber schnell. Bald dringt der Ruf der neuen ‚altmeisterlichen‘ Niederländer sogar bis in die USA.
Gerade amerikanische Industrielle, die sich Granden wie Ruisdael oder Rembrandt kaum noch leisten können, kaufen die junge Haager Schule, weil sie einen Hauch von Tradition, von wertigem 17. Jahrhundert, bietet. Bald kommt es allerdings auch bei den Jungen zu einer heftigen Preisentwicklung, wie das Beispiel Anton Mauves zeigt. Nach seinem Tod 1888 wird eines seiner Bilder in New York für 11 000 Dollar versteigert, eine enorme Summe – in ein heutiges Wert-Verhältnis umgerechnet sind das ungefähr 400 000 Dollar.
Nicht ganz überraschend, bringen die Maler in Holland, dieser großen Seefahrer- und Fischerei-Nation, beeindruckende Strandbilder hervor, vor allem im Küstenort Scheveningen bei Den Haag. Auch hier dominieren Himmel, ruhige Atmosphäre und die Farbe Grau.
Der meist in Paris lebende, regelmäßig an der heimischen Küste arbeitende Jongkind malt das so perfekt, dass Claude Monet ihn als „einzig guten Maler von Meeresbildern“ lobt. Mit seinem lockeren Pinselstrich inspiriert Jongkind den zwanzig Jahre jüngeren Kollegen und wird zum Vorläufer des Impressionismus in Frankreich.
Jongkind geling das Kunststück einer prä-impressionistischen Nachtdarstellung bei Mondlicht. War das Motiv des Vollmonds seit der Romantik zum Klischee geronnen, haben Jongkinds glimmende Nachtansichten, für die er hochgeschätzt wird, durch seinen energischen, deutlich sichtbaren Pinselstrich eine moderne Wirkung.
Zu modern? Gracht in Rotterdam wird vom Komitee des Pariser Salons 1873 abgelehnt. Tief gekränkt beschließt Jongkind, sich nie wieder an Ausstellungen zu beteiligen – so schlägt er auch die Einladung zur heute berühmtesten Impressionismus-Ausstellung von 1874 in Paris aus, der Geburtsstunde der impressionistischen Bewegung ...
Eine elegante Frau läuft direkt am Betrachter vorbei, man meint, ihr Parfum riechen zu können, erahnt das zarte verschleierte Gesicht – hinter ihr die wuchtigen Häuserklötze Amsterdams, der Himmel nur ein eckiger blassgrauer Fleck. George Hendrik Breitners Die Singelbrücke bei der Paleisstraat in Amsterdam zeigt Großstadtleben aus nächster Nähe. Das Bild wirkt so direkt, dass ein irritierter Kritiker 1896 schreibt: „Die Figur ist – auch wenn sie durch den Rahmen zweigeteilt und nur der halbe Körper sichtbar wird – sicherlich bewusst so platziert“, jedoch: „die Ausführung schadet der Absicht“.
Ursprünglich hatte Breitner eine Frau aus den unteren Schichten ins Bild gesetzt, vom Kritiker als „Amsterdamer Straßenmädchen des bekannten Typs“ abgewertet. Alles ziemlich heikel, weswegen Breitners Kunsthändler interveniert. Der Künstler möge die provokante Figur bitte ändern. Und so, mit Pelzmantel, modischem Hütchen und Gesichtsschleier, wird das „Straßenmädchen“ zu einer Bürgersfrau ...
Das graue Licht der Haager Schule ist jetzt ein künstliches Großstadt-Leuchten. Fast schon expressionistisch beschreibt es 1899 der Schriftsteller und Maler Jacobus van Looy: „Er sah große rote Lichter, auf Stöcken getragene Ballons, die wie bunte Monde hin und her schaukelten; sie erinnerten an blutige Feuerscheiben in den dunklen Wassern der Kanäle.“
Die Amsterdamer Impressionisten feiern urbane Lebenslust in allen Schattierungen. In ihrer Malerei wird die Stadt von der Kulisse zum Hauptmotiv, das zeigt sich besonders im Werk zweier Künstler, die von 1886/87 an in Amsterdam arbeiten: Breitner und Isaac Israëls (Sohn von Jozef Israëls). Sie sind die Anführer des Stadtimpressionismus, der ersten Avantgardebewegung der niederländischen Malerei.
Von Breitner gibt es Ansichten des nächtlichen Amsterdam, da zucken die Lichtreflexe – besser: Pinselstriche – über das Bild wie Blitze. Sein Mädchen im roten Kimono wirkt viel ruhiger, doch ist es ebenfalls atemlos, ohne Vorzeichnung und Nass-in-Nass auf die Leinwand geworfen.
Das Improvisierte erkennt man am Gesicht des Mädchens: anatomisch nur angedeutet, ein blanker Empfindungsausdruck. Nur was sieht man da: Langeweile, Arroganz, Schüchternheit?
Der Stadtimpressionismus rückt den Menschen ins Zentrum der Bilder – ganz ähnlich macht es auch das Strandbild dieser Jahre. Die Bürger, die die Küste als Erholungsort entdecken, sehen allerdings anders aus als heute: Die Männer im Anzug, die Frauen mit Rüschenkleid und Hut. Nackte Haut entdeckt man so selten wie Proletarier oder Jugendgruppen.
Übrigens, die Damen halten oft einen Sonnenschirm. Braun werden will hier niemand, Blässe gilt als vornehm. Und der weite niederländische Himmel verschwindet, wie auch auf den Stadtbildern, zugunsten der Figuren.
Ähnlich hingetuscht und spontan wie Ferdinand Hart Nibbrigs Porträt seiner Verlobten wirkt auch Anton Mauves Cafészene In Scheveningen.
Die beiden mittig platzierten Bürgerinnen blicken aufs Meer. Der Kellner, mit einem weißen Tuch über dem Arm und einem Tablett in der Hand, ist vom Meer abgewandt. Er muss die Gäste im Blick behalten – das ist die soziale Realität, ganz spontan in Öl skizziert. Man sieht die Überarbeitungen, das Unfertige, Entwurfshafte.
Auch Isaac Israëls' Eselreiten am Strand wirkt wie eine Momentaufnahme, was sich auch durch die Schnelligkeit erklären lässt, mit der er malt:
Vor allem nicht zu viel arbeiten, nicht mehr als zwei Stunden am Stück, nicht zu lange grübeln, dann ist man nicht mehr frisch.
Die ärmeren Schichten, in dunkler Kleidung, arbeiten im Garten. Die Bessergestellten, zumeist in hellen Kleidern, versinken im mondänen ästhetischen Genuss der farbigen Blumenpracht. Genau wie die Maler.
Geht es um Blumen und um Frauen in weißen Kleidern, ähnelt sich der national oft so unterschiedliche Impressionismus teils stark, egal, aus welchem Land die Maler kommen. Wobei sich überall in Europa schon die nächste ästhetische Phase ankündigt ... Warum noch Blumengärten malen, wenn man die gesamte Welt pointillistisch in Farbpigmente zerpflücken kann?
Der Pointillismus geht von einer – nicht ganz korrekten – optischen Idee aus: Zwischen 1884 und 1886 entwickelt der französische Maler Georges Seurat eine Maltechnik, bei der er einzelne, unterschiedlich farbige Punkte nebeneinandersetzt. Die so in ihre Bestandteile aufgespaltenen Mischfarben sollen sich laut damaliger Theorien in den Augen der Betrachter bilden, eine Auffassung, die sich auch in den Niederlanden verbreitet, besonders durch den Künstler Jan Toorop.
Als Toorop 1892 schon wieder durch ist mit dieser Seh- und Malweise, fängt beispielsweise Hendricus Petrus Bremmer, durch ihn inspiriert, erst so richtig an.
Was Bremmer von den 1890er-Jahren an mit dem Pointilismus macht, ist vor allem ein entscheidender Schritt in Richtung Moderne, es leitet die Autonomie der Farbe ein. Die Künstler lösen sich zunehmend von der realistischen Wiedergabe, favorisieren Farbe und Gefühl.
Mondrian gelingt mit seiner Pointilistischen Studie ein Geniestreich. Er verewigt die Farbstimmung der sogenannten Blauen Stunde so tief und schön wie kein Zweiter, weil es in diesem atmosphärischen Moment ja wirklich stimmt: Welt und Seele verschmelzen im Farbton der Dämmerung.
Fühle mit mir diese Flut, dieses fulminante Leuchten ...
Ein Höhepunkt der Farbemanzipation ist Mondrians Mühle bei Domburg, wo der Künstler ein uraltes niederländisches Thema, die Windmühle, ins 20. Jahrhundert abstrahiert. Solche und ähnliche Bilder sorgen für Unruhe, die Kritiker sind auf diese krasse visuelle Freiheit nicht vorbereitet. Mondrians wahnsinnige Farben wiesen auf Geisteskrankheit hin, heißt es zu einem anderen seiner Mühlen-Bilder – völliger Unsinn, ruft hingegen der Schriftsteller Israël Querido in Verteidigung von Mondrians Malerei.
Überhaupt habe die realistische Herrschaft der Haager Schule, findet Querido, lange genug gedauert:
Lass jetzt den süß-sommerlichen, schläfrig-sonnigen, wunderschön gemalten Tag von Willem Maris mit seinen weißen Kühen und hellen Melkszenen; lass jetzt die grün-kapriziösen Entengrützegräben, in denen zierliche weiße Schwänlein und Entchen schwimmen; [...] Weg mit dieser Kunst und mit Ihrer schmatzenden und lechzenden Erinnerung [...]
Wenn ich [...] die Sonne auf der Landschaft malen wollte, so würde ich dieser Landschaft erst den Rücken zukehren und dann, wenn ich das Gefühl spüre, das das Leuchten der Sonne auf der Landschaft in mir auslöst, in Gelb und Blau und Grün komponieren.
Wichtige Farbbefreier der Niederlande sind der stilistisch vielseitige Toorop und natürlich Van Gogh, über den eine Kunstsammlerin ganz entzückt sagt: „Vincent lebt in Farbe, er trinkt Farbe und schöpft alle Möglichkeiten seines Ideals bis zum Äußersten aus.“ Obwohl Toorop den Stein ins Rollen gebracht hat, ist es von 1906 an auch Jan Sluijters, der die Entfesselung der Farbe in den Niederlanden vorantreibt. Sluijters, der sich zwischen 1904 und 1906 in Paris aufhält, saugt dort neue Kunstströmungen auf.
Die Pariser Avantgardisten verwenden Farbe nicht mehr als Mittel zum Zweck der Lichtdarstellung, sondern als eigenständiges Element. Das traditionelle Hell-Dunkel-Prinzip der Malerei wird jetzt bei den holländischen Impressionisten abgelöst von Farbkontrasten. So hat Mondrian seine Pappeln ursprünglich aus Grün- und Brauntönen zusammengesetzt, ganz im Einklang mit der Haager Schule. Nach einem Treffen mit Toorop aber übermalt Mondrian das Bild mit energischen, farblich intensiven Pinselstrichen.
In diesem Luminismus genannten Stil, der niederländischen Spielart des Pointillismus, regiert der spontane, intuitive Farbauftrag. Es geht nicht um die sichtbare Welt, sondern um die Empfindung des Künstlers.
So beginnt die Stilexplosion des 20. Jahrhunderts. Und alles, was die Wald-Maler von Oosterbeek, die Haager Schule und die Amsterdamer Stadtimpressionisten erreicht haben, wirkt jetzt, wenige Jahrzehnte oder sogar nur Jahre später, fast gemütvoll. Maris‘ unerhörtes Diktum aus der Mitte des 19. Jahrhunderts („ich male keine Kühe, sondern Lichteffekte“) wird abgelöst. Jetzt dürfte in den Avantgarden europaweit eher ein Ausspruch des großen russischen Modernisten Kasimir Malewitsch gelten:
Farbe ist auch Licht, Licht ist auch Farbe – je nach den Umständen.
Der Kubismus multipliziert den Blick auf den Gegenstand, in dem er ihn in geometrische Perspektiven zergliedert. Der Expressionismus übersteigert die Welt in totale Gefühlsaussagen. Die Abstraktion reduziert alles zu gegenstandslosen Farben, Formen, Sinneinheiten. Und das alles passiert gleichzeitig! Wie im Rausch wechseln die Stile, beeinflussen und überschneiden sich.
Dabei spielen Frauen immer mehr eine Rolle, man denke an Hilma af Klint, Sonja Delaunay – oder an die Niederländerin Jacoba van Heemskerck. Unterricht bekam sie unter anderem von Mondrian.
Mondrian wiederum reicht der Expressionismus schon 1914 nicht mehr, er will neue Lösungen. Und findet sie auch. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs schreibt er in einem Brief:
Die Natur (oder das Sichtbare) inspiriert mich und weckt in mir das Gefühl, das die Schöpfung anregt, nicht weniger als in jedem anderen Maler, aber ich möchte der Wahrheit so nahe wie möglich kommen; deshalb abstrahiere ich alles, bis ich zum Wesentlichen der Dinge komme.
Mondrians reduzierte, aufs Wesentliche von Form und Farbe beschränkten rechtwinkligen Rasterbilder sind eine unerhörte ästhetische Neuschöpfung. Sie werden zu Ikonen der Moderne.
Doch vom Himmel gefallen sind diese Bilder nicht. Sie tragen in sich das ferne Echo der grauen Haager-Schule-Pinselstriche, das Strahlen stadtimpressionistischer Farbexperimente, die kühne Aufbruchsstimmung von Pointillismus und Luminismus.