Munch
Bislang kennt man den Norweger Edvard Munch als Urvater der Darstellung moderner Entfremdung und Einsamkeit, was sich unter anderem in seinem berühmten Gemälde Der Schrei ausdrückt. Mit diesem Bild hat er nicht nur der Angst ein Denkmal gesetzt, sondern sich in die moderne Popkultur eingeschrieben. Dass man Munchs Werk mit dieser Perspektive längst nicht gerecht wird, zeigt die aktuelle Ausstellung Munch. Lebenslandschaft im Museum Barberini. Die umfangreiche Schau ist die erste Ausstellung, die sich mit Munchs Faszination für die Natur auseinandersetzt. Wie sich dieser neue Blick auf den norwegischen Künstler darstellt, welche Werke in Potsdam bis April 2024 präsentiert werden und welche Themen die Schau umfasst, zeigt Ihnen der Barberini Prolog als multimediale Webseite zur Ausstellung.
Sie gingen in eine Waldöffnung hinein [...], sie wandelten schweigend auf und ab, die Köpfe gesenkt – eingehüllt in eine feierliche Stimmung, wie in einer Kirche.
Munchs Wahrnehmung als Künstler des Fin de Siècle, der die Nächte in Berlin vertrinkt, seiner Wahlheimat für mehrere Jahre, gibt nur einen Teil seines Lebens und Schaffens wieder. Die meiste Zeit seines Lebens ist er ein Landschaftsmaler, ein Naturversteher, ein pantheistischer Naturphilosoph mit dem Pinsel. Nicht umsonst sind mehr als die Hälfte seiner Bilder Landschaften: Seine ausdrucksstarke Malweise, die den Impressionismus überholt und den Expressionismus vorwegnimmt, sucht einen Ausweg aus der Moderne, geht ins Organische, Kosmische, Spirituelle.
Nach einem Zusammenbruch 1908, der ihn aus Berlin und in die finale Bekämpfung seiner Alkoholsucht in eine Klinik bei Kopenhagen treibt, zieht es Munch zurück in seine norwegische Heimat.
Die Ausstellung Munch. Lebenslandschaft, eine Kooperation des Clark Art Institute in Williamstown, USA, des Museums Barberini und des MUNCH in Oslo, zeigt erstmals vertieft diese träumerische, fast zarte Seite des Künstlers, der mit seiner allumfassenden Fantasie und Wahrnehmung das Menschliche in der Landschaft und das Kosmische im Menschen findet.
Fast könnte man von einer Poesie des Daseins sprechen, schaut man sich ein stimmungsmalerisches Gemälde wie Haus in einer Sommernacht von 1902 an. Hier verbreitet sich keine zivilisatorische Angst, die Welt geht nicht unter – sondern einfach ein Tag zu Ende.
Munchs Naturauffassung ist pantheistisch. Er sieht das All in der Welt, den Kosmos im Menschen und den Menschen als Kosmos:
Ein Tropfen Blut ist eine Welt für sich mit eigener Sonne und Planeten. Das Meer ist nur ein Wassertropfen aus einem winzigen Teil des Körpers.
In seinen Bildern setzt er die menschlichen Figuren stark mit der Umgebungslandschaft in Beziehung, malt vermenschlichte Formen in die Bäume, Steine, Himmel und Gewässer – so schwebt auf Aussicht vom Nordstrand eine Insel auf dem hellblauen Wasser, die an einen Mund erinnert.
In fahlen Nächten werden die Formen der Natur zu phantastischen Gestalten. Steine liegen wie Trolle unten am Strand. Sie regen sich.
Edvard Munchs Leben ist von Phasen psychischer Instabilität geprägt. Nach seinem Zusammenbruch 1908 gewinnt er, nach wiederholten Behandlungen, den Kampf gegen Depression und Trinksucht. Nach Jahren der Unruhe lässt er sich von 1909 bis 1915 im norwegischen Küstenort Kragerø nieder. In Skrubben, seinem dortigen Anwesen, arbeitet er in Freiluftateliers. Er geht in der Natur auf, lässt die Stadt als Bildmotiv fast vollständig aus.
Seine Baum- und Waldbilder zeigen oft Liebesgeschichten – darunter auch Zum Walde, eine Holzschnittserie, die sich in Varianten über Jahrzehnte erstreckt. Holz ist für Munch lebendiges Material. Auch bezieht er bei seinen Holzschnitten das Material des Druckstocks, also dessen Maserung, bildhaft ein: eine echte Durchdringung von Kunst und Natur.
Paare sind bei Munch oft ‚einsam zu zweit‘, abgebildet in großer Isolation. Hier aber schmiegt sich das Paar eng zusammen. Um 1890 notiert er:
Sie gingen in eine Waldöffnung hinein – zu beiden Seiten standen hohe Nadelhölzer und Birken – üppig und dunkel sich abhebend gegen die dämmerige Abendluft [...].
Ein Moment der Einheit. Doch das Geschrei der Natur, der biblische Fluch und der darwinistische Daseinskampf, sie können jederzeit hervorkommen – so in der Druckserie Asche, die an das Alte Testament erinnert. Adam und Eva, aus dem Paradies verstoßen, müssen sich im Schweiße des Angesichts auf der Erde durchschlagen.
Munch verlor mit fünf Jahren seine Mutter, mit 14 die älteste Schwester. Diese Prägung seiner Kindheit durch Verlust und Trauer findet man noch in Werken, die Jahrzehnte später entstanden – so in seinem Zauberwald, gemalt von 1919 bis 1925, in dem große Verlorenheit herrscht. In anderen Bildern wie Kinder im Wald ist diese Drastik abgemildert. Zwar steht die niedlich-bunte Kindergruppe vor einem mächtigen, grünen und dunklen, Baum-Meer, über das sich ein unruhiger Abendhimmel spannt; doch beherrscht keine Stimmung des Schreckens das Bild, eher des Abenteuers.
Entstanden mit fast zwei Jahrzehnten Abstand, zeigen die Gemälde, dass es im Werk Munchs kaum eine klare zeitliche Trennung gibt zwischen seinen verzweifelten und den glücklicheren Lebensphasen. Kinder im Wald, viel früher entstanden als der Zauberwald, stammt so noch aus Munchs Berlin-Phase, die als eigentlich düsterer angesehen wird als die Jahre zurück in Norwegen.
Ähnlich zeigt sich diese Gefühls-Kontinuität, vergleicht man Dunkler Tannenwald von 1899 mit Aus dem Thüringer Wald, sechs Jahre später entstanden. Der Tannenwald erinnert an die Märchen des norwegischen Autors Theodor Kittelsen. Der Thüringer Wald hingegen wirkt, als habe Munch die gesamte Verzweiflung seiner Existenz in die Landschaft projiziert.
Nichts vergeht – dafür gibt es Beispiele in der Natur – der Körper, der stirbt – verschwindet nicht – die Materie löst sich auf – wird transformiert.
Um 1900 kommt ein neues Umweltdenken auf, es fällt beim sinnsuchenden Munch auf fruchtbaren Boden. Er verbringt viel Zeit mit dem Ökonomen und Schriftsteller Christian Gierløff, dessen Familie ihr Vermögen mit Holzhandel gemacht hatte. Der gelbe Baumstamm, in leuchtender Vitalität, ist ein Symbol für das Wachstum und Verschwinden der norwegischen Wälder, kann Tod und Transformation gleichzeitig symbolisieren. Noch heute wirkt das Bild so frisch, so ungewöhnlich, dass die New York Times sofort erkennt: das ist nicht „Munch-as-usual“!
Während die Großstädte stärker wachsen, die Eisenbahnen Europa erobern und die Industrie ganze Landstriche verschlingt, gibt es eine Gegenbewegung zur technisierten Entfremdung: Zurück aufs Land, zurück in eine kultivierte Natur. Für dieses Landleben ist Munch von 1909 an Feuer und Flamme. Man sieht seine Veranlagung allerdings schon an dem früher entstandenen Gemälde Fruchtbarkeit, wo ein Paar in ländlicher Tätigkeit harmonisiert. Einzige Störstelle: Dem Baum wurde ein Ast abgesägt, das helle Holz leuchtet aus dem Bild wie eine Wunde – fast scheint es, das Paar beuge sich zu dem Baum, um ihn zu pflegen. Die Natur trennt hier nicht, sie verbindet.
In der Küstenregion rund um den Oslofjord mietet und kauft Munch Anwesen in Åsgårdstrand, Kragerø, Hvitsten und auf der Insel Jeløya, legt dort Gärten an. In den Garten seines Hauses in Åsgårdstrand pflanzt er Beerensträucher und Apfelbäume; in Hvitsten bewirtschaftet er einen weiträumigen Obstgarten, hat Hennen, Tauben, Enten, einen Hund und ein Pferd.
Das letzte Anwesen des Künstlers, in Ekely nahe der Osloer Stadtgrenze, war ursprünglich eine Gärtnerei. Sie ist auch zu Munchs Zeit noch so ertragreich, dass er während des Ersten Weltkriegs mit der Ernte seine Familie versorgen kann – Zeugnis davon geben die vielen Früchte auf Apfelbaum im Garten.
Die Ackererde sehnte sich nach der Luft.
Auf Frau mit Kürbis, einem späten Meisterwerk, trägt die weibliche Figur im Vordergrund das riesige Gemüse, während das Haus, fast vollständig verwuchert, von Ferne in zartem Rot-Orange leuchtet – ein Farbton, der sich im Haar der Frau wiederfindet. Zwei Jahre vor seinem Tod verschränkt Munch in diesem Bild noch einmal Pflanze, Bauwerk und Menschenfigur, als könnten Zivilisation und Natur einander im Garten ausbalancieren.
Er sieht in Wellenlinien, er sieht die Küstenlinie sich am Ozean entlangschlängeln [...], in Wellen sieht er Frauenhaar und Frauenkörper.
Munch verbringt den größten Teil seines Lebens an den Fjorden rund um Oslo, ist aber auch in Warnemünde immer wieder Gast. Die Küste ist und bleibt eines seiner Hauptmotive. Munch selbst findet, die Uferlinien ähneln den „Lebenslinien, die sich ständig verändern“. Besonders prägnant fürs seine Küstendarstellungen sind Mondschein und Sommernacht. Nicht nur legt Munch hier viel Gefühl in die Küstenlinie, er erfasst zudem eine Mittsommer-Lichtstimmung, eine Dunkelheit, die zu glühen scheint, die so typisch für Skandinavien ist.
Teils erzählen die Küstenbilder von sich trennenden Paaren, so die Lithografie Loslösung II. Stets reagieren die Figuren dabei mit der Landschaft und aufeinander, sind deutlich verbunden oder isoliert. Das Haar der Frau nimmt die Ufer- und Wellenformen auf, bewegt sich zum Mann, legt sich auf sein Herz. Vom linken Bildrand ragen Äste über den Männerkopf zur Frau, die Blätter wie ein Echo auf das Blütenmuster des Kleides. Wer hat hier wohl wen verlassen?
Auf dem Farbholzschnitt Melancholie II sieht man eine einsame Frauenfigur – ungewöhnlich für Munch, sind es bei ihm doch meist die Männer, die einsam sind. Während er die wenigen Abzüge dieses Druckes eigenhändig anfertigt, lässt er in höheren Auflagen verbreitete Holzschnitte wie Abend. Melancholie I und Melancholie III professionell drucken.
Für Munch hat alles, was in und aus der Natur entsteht, eine Seele [...]. Die Erde, die Natur ist weiblichen Geschlechts, sie ist fruchtbar, regt sich und lockt.
Alle grafischen Techniken – nicht der Holzschnitt allein – gewinnen durch Munch bisher ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten. Ein neuer Inhalt schafft sich ein neues Gefäß.
Bereits in seinen Berliner Jahren um 1894 entdeckt Munch die Druckgrafik. Später in Paris lernt er, Holzschnitte zu machen, entwickelt eine grandiose Meisterschaft. Nicht nur nutzt er oft die Maserung des Holzes, um sein pantheistisches Weltbild auch materiell auszudrücken. Man sieht die Maserung auf den Drucken, sieht also einen Teil der Landschaft, die als Motiv dient, in der Kunst aufgehen.
Zudem arbeitet er etwa bei Melancholie II mit einer ausgeklügelten Technik: Er zerlegt den Druckstock in drei Teile und bearbeitet diese separat mit Schwarz, Rot, Blau. Dann legt er sie zusammen, zieht sie auf dem Papier ab. Dass der Holzschnitt aus drei getrennten Druckstöcken resultiert, ist an einer Linie zwischen den Teilen erkennbar. So wird nicht nur die Produktion von unterschiedlich farbigen Holzschnitten leichter, weil variabler. Es betont auch die Dreiteiligkeit der Komposition und steigert das vermittelte Gefühl von Isolation: Die Frau ist getrennt vom Land, das Land ist getrennt vom Meer... Obwohl, so ganz eindeutig ist das nicht. Das rote Kleid der Frau, in dem ein Felsblock als anthropomorphe Form mit aufgerissenem Maul erscheint, nimmt den Schwung der Uferlinie auf. So wird in diesem Bild von Trennung, Anziehung und Einsamkeit das Meeresufer fast magisch bewegt, scheint zu schwingen. Ähnliches passiert auch in den Druckvarianten von Zwei Menschen. Die Einsamen ...
In dem Ort lebten nur alte Fischer [...], die jungen Männer waren alle auf See, sodass man nur alte Weiber, Frauen und Kinder zu Gesicht bekam.
Zu Munchs berühmtesten Motiven gehören die Mädchen oder Frauen auf einer Brücke. Von diesem Gemälde gibt es viele Varianten und Versionen, so aus dem norwegischen Dorf Åsgårdstrand vor dem Landhaus Kiøsterud, das dem Künstler gehört. Die Mädchen umweht ein Hauch von Geheimnis, sie scheinen zu kichern, zu flüstern. Vor allem wirken sie gesund und glücklich. Sie bilden eine Einheit, untereinander und mit der schimmernden Abendstimmung. Der Ausblick, hier auf das Ufer mit Häusern, ist bei Munch selten. Er ist der Meister des Mittelgrundes, hat also kaum Vorder- und fast nie Hintergrund, was eine besondere Intensität erzeugt. Ähnlich wird das, gerade für das Mädchen-Motiv, Munchs Künstlerfreund Max Liebermann gesehen haben. Liebermann findet, „dass dies mein bestes Bild ist“, erzählt später Munch.
Im Ostseebad Warnemünde widmet Munch 1907 und 1908 etliche Bilder den dort am Strand badenden Männern. Ihr Muskelspiel ist für ihn ein Lebenskraft-Symbol – er malt Badende Männer splitternackt und direkt am Strand, worüber Photos Auskunft geben, die Munch bei der Arbeit vor der Staffelei am Strand zeigen.
Einen anderen Badenden Mann bildet er zehn Jahre später ab, wahrscheinlich bei Hvitsten, wo er seit 1910 ein Anwesen hat. Dort entdeckt er auch Sonnenbadende als Motiv, die eine Art energetische Verbindung zwischen Mensch und Licht versinnbildlichen.
Ebenfalls aus Hvitsten stammt Wellen am Strand – eine dynamische Studie der Verbindung von Meer und Land, Wasser und Licht. Der expressionistische Duktus erinnert an die esoterischen Bilder der schwedischen Malerin Hilma af Klint.
Ganz anders macht es Munch dann wieder bei Seestücken aus Warnemünde, wie Meerbild und Wellen. Das erste ist eine Vivisektion grün-blauer Wasser-Farbtöne, durch die gelber Sand schimmert. Das zweite Bild: ein direkter Sprung in die Meereswildheit. Als zapple er mit dem Maler in den Fluten, kann der Betrachter oben und unten kaum unterscheiden.
... hin zum Licht, zur Sonne, zur Offenbarung.
Munchs Bandbreite, man könnte auch sagen: seine Zerrissenheit, wird an zwei Werken besonders deutlich: Der Schrei und Die Sonne. Beide zeigen eine Durchdringung von Figur und Landschaft, von Erde und Kosmos. Doch während die Schrei-Figur sich offenbar in einer existenziellen Notlage befindet, hat Munch die Sonne so hell und großzügig gemalt, dass ihre Strahlen richtiggehend aus dem Bild heraustreten, zum Malenden, zum Betrachter. Die Natur in Munchs Kunst selbst Schauplatz menschlicher Dramen. Gleichzeitig ist sie eine Schöpfungsinstanz, bildet Zirkel des Vergehens und Wiederkehrens, denen man sich hingeben darf.
Die Erde und die Steine sehnten sich danach, sich mit der Luft zu vermischen, und Menschen und Tiere und Bäume verwandelten sich in Wasser, und Erde wurde Luft.
Auch zu Munchs Lebenszeit gibt es schon Klimaangst – allerdings fürchtete man sich nicht, wie heute, vor Überhitzung, sondern vor Vereisung in Form einer neuen Eiszeit. Munchs Bildern sieht man diese Angst jedoch kaum an, obwohl er die Kraft der Elemente anerkennt – Der Sturm oder Herbstregen verdeutlichen das besonders. Auf dem Herbstbild hat er das Niederprasseln in Pinselstriche umgesetzt, die die Menschen regelrecht von der Straße wischen.
Munch liebt es, eine von Schnee regierte Welt zu malen, teils märchenhaft, dann wieder fast realistisch, so beispielsweise Winter in Kragerø. Die Schneeschmelze, der Übergang von Eis zu Wasser, faszinierte ihn. Er umkreist sie lyrisch und bildlich, so in Schneelandschaft. Thüringen. Einmal notiert er: „Die Bäche sprudelten – von den Dächern tropfte es – glitzernde flüssige Perlen – Die Erde wurde weich.“
Ganz intensiv sind bei Munch die traumhaften, fast erträumten Bilder nordischer Winternächte, die so stimmungsvoll wirken, dass man den Schnee zu knistern hören glaubt. Beispiel für ein solches Werk ist Sternennacht.
Munch ist ein leidenschaftlicher Leser, nach seinem Tod 1944 findet man in seinem Haus in Ekely rund 1500 Bücher. Dass er in viele Richtungen geforscht und gedacht hat, sieht man nicht nur an einer allegorischen Darstellung wie Astronomie, Geschichte, Geographie, sondern auch an der Verschiedenartigkeit seiner Lektüre. Bücher über Düngemittel, die Flora Norwegens und Einsteins Relativitätstheorie fanden sich in seiner Bibliothek ebenso wie K.G. Doblers Ein neues Weltall, Knut Hamsuns Segen der Erde und Werke von Munchs Schriftstellerfreund Max Dautendey, etwa dessen Lyrikband Die schwarze Sonne.
Einerseits ist in Munchs Kunst die Verzweiflung des Schreis fast immer spürbar, eine gottlose Grübelei im Sinne Friedrich Nietzsches, den Munch für einen der größten Philosophen aller Zeiten hielt und postum porträtierte. Andererseits herrscht ein positiv verstandener Spiritualismus vor, eine hier mythische, dort biologisch-philosophische Naturverbundenheit – auf der Grafik Stoffwechsel (Leben und Tod) wachsen aus einem verstorbenen Frauenkörper Pflanzen, ein Lebenskreislauf, den Munch zwanzig Jahre später als Stoffwechsel (1916) nochmals variiert. Diesmal durchdringen dicke gelbe Sonnenstrahlen die abgewandelte Szene.
In den Kreislauf der Natur eingebunden zu sein, ist für Munch tröstlich, wobei er dabei ungewöhnliche Ideen verfolgt: Das Universum etwa sei nur Teil eines „höheren, mächtigeren, menschlichen Wesens“, das dennoch „aus denselben chemischen Zusammensetzungen besteht, wie wir, wie unsere Erde, wie unsere Sonne“ – Ideen, die an Doblers Ein neues Weltall von 1892 anknüpfen. Und dann ist da außerdem die Idee der Kristallisation:
Ich habe andeuten wollen, dass der Tod Übergang ist zu Leben. Der tote Körper geht über in neue Kristallformen.
Schon während der Zeit der Alkoholexzesse in der Berliner Restauration „Zum schwarzen Ferkel“ in den 1890ern versucht Munch sich an ersten Bildern zur Kristallisation, durch die Mineralisches zum Leben erweckt wird; grandios die Kohlezeichnung In uns sind Welten, etwas später folgen Im Land der Kristalle und Trauermarsch. Munch: „Alles ist Leben und Bewegung – Der Lebensfunke findet sich auch in den Grundfesten der Erde – Den Kristallen – .“
Kunst ist der menschliche Drang nach Kristallisation. Die Natur ist das große, ewige Reich, von dem die Kunst sich nährt.
Dieses Munch’sche Denken erinnert an die Naturphilosophie von Ernst Haeckel, dem er bei Thüringen-Aufenthalten vielleicht begegnet ist. Dort hat Munch in jedem Fall den Kunsthistoriker Botho Graef kennengelernt, der ihn treffend beschreibt: Munch kopiere die Natur nicht, sondern lasse sie „neu in uns wirken [läßt]. Entfernt sich auf diesem Wege seine Kunst scheinbar von der Wirklichkeit, […] so entfernt sie sich doch niemals von der Natur. Im Gegenteil, sie stellt die Gesetzmäßigkeiten der Natur nur reiner und eindeutiger dar.“
Die monumentalen Wandbilder für die Aula der Universität Oslo: In der Mitte seines Lebens gemalt, sind sie ein Kulminationspunkt von Munchs Kunst und Denken. Die Idee der Kristallisation findet sich hier ebenso wie die Liebe zum Bäuerlichen und Naturverbundenheit. Sogar Einsamkeit und Liebessuche klingen an, allerdings transformiert. Ganz besonders stark ist das Wandbild Die Sonne mit seinen beiden Begleittafeln Frauen sich zur Sonne wendend und Männer sich zur Sonne wendend.
Der Sonnenplanet, eine Farbexplosion über einer abstrahierten Fjordlandschaft, schleudert Strahlen durch den Kosmos, erreicht damit auf den Nebentafeln die Menschen – links die Frauen, rechts die Männer, nur auf den ersten Blick getrennt. Durch die Kraft des Lichts sind sie verbunden, und fast erinnert diese Ordnung an die Komposition von Fruchtbarkeit, denn in beiden Fällen wird die Verbindung der Geschlechter, die Verbindung der Figuren durch etwas Natürliches, Sonne und Baum, hergestellt.
Diese organisch- mythische Verbindung bestimmt Munchs Kunst durch und durch. Der Held der entfremdeten Moderne, dies offenbart die Ausstellung Lebenslandschaft erstmals, er ist auch ein Held der Natürlichkeit. Auf seinem Selbstbildnis mit Palette von 1924 sieht man das einmal mehr: Munchs Kopf wächst, wie die Wipfel der Bäume, in den blauen Himmel.