Modigliani
Wer will sich diesen Frauen entziehen? Selbstbewusst blicken sie einem entgegen und ruhen zugleich in sich. Amedeo Modigliani lässt sie über ihren Raum bestimmen, mal charmant, mal neugierig-frech – und immer wieder nachdenklich. Die Akte geben sich so ungezwungen und entspannt, als sei nacktes Posieren das Normalste überhaupt. Damit bringt Modigliani verblüffend moderne Frauen auf die Leinwand. Noch heute würden die meisten von ihnen weder im Supermarkt noch beim Sport auffallen, und nicht etwa, weil sie unscheinbar daherkommen. Im Gegenteil: Mit ihren kurzen Haaren und dem androgynen Look passen sie perfekt in unsere Zeit.
Was ich suche, ist weder Realität noch Irrealität, sondern das Unterbewusstsein, das instinktive Geheimnis des Menschen.
Die Ausstellung Modigliani. Moderne Blicke rückt auch ein Bild gerade: den Mythos vom ständig alkoholisierten Künstler, der sich im Rausch auf stumme Stereotypen beschränkt, und genauso die Mär vom egomanen Schürzenjäger, der durch seinen frühen Tuberkulosetod gleich noch die schwangere Lebensgefährtin in den Selbstmord treibt. Amedeo Modigliani ist Frauen mit einigem Respekt begegnet. Man könnte ihn sogar als einen frühen Feministen bezeichnen. Das Ausstellungsprojekt – in Kooperation mit der Staatsgalerie Stuttgart – beschränkt sich nicht nur auf das Pariser Umfeld und den Montmartre, sondern zeigt den Künstler im europäischen Kontext zwischen Gustav Klimt und Egon Schiele, Paula Modersohn-Becker oder Wilhelm Lehmbruck.
Modigliani liebte die Poesie und urteilte ... mit Seele und einem geheimnisvollen Sensorium für das Feinsinnige und Abenteuerliche.
Amedeo Modigliani wächst in einer weltoffenen Umgebung auf. Zum einen ist da die toskanische Hafenstadt Livorno, in der er am 12. Juli 1884 geboren wird, zum anderen vor allem sein liberales jüdisches Elternhaus. Bildung hat einen hohen Stellenwert, und „Dedo“, wie das jüngste von vier Geschwistern von allen genannt wird, fällt durch „frühreife Intelligenz und Nachdenklichkeit“ auf.
Er verschlingt stapelweise Bücher, kennt Dante und Petrarca bis ins Detail. Weil das Familienunternehmen kurz vor Amedeos Geburt bankrottgegangen ist, bestreitet die französische Mutter den Lebensunterhalt als Sprachenlehrerin und mit literarischen Übersetzungen. Darunter auch Werke Gabriele D’Annunzios.
Dedo kränkelt und wird zu Hause unterrichtet. Den Stift legt er kaum aus der Hand, versieht jedes Blatt mit kleinen Zeichnungen – das werden später auch die Freunde am Montmartre beobachten. Der philosophisch interessierte Großvater vermittelt dem Jungen ein humanistisch geprägtes Weltbild und durchstreift mit ihm die Museen. Die Uffizien im nahen Florenz kennt Dedo wie seine Westentasche. Dass er bereits als Jugendlicher fest entschlossen ist, Maler zu werden, kommt nicht von Ungefähr. Zumal seine Cousinen Olga und Corinna Modigliani mit einigem Erfolg als Künstlerinnen in Rom arbeiten und sogar auf der Biennale in Venedig ausstellen.
Amedeo wohnt eine Zeit im Atelierhaus der beiden, nachdem er sich wegen eines immer wieder ausbrechenden Lungenleidens in den italienischen Süden begibt. Seine schwache Gesundheit hält den jungen Mann dennoch nicht davon ab, in Florenz und Venedig Kunst zu studieren.
Wenn Amedeo Modigliani mit 35 Jahren an den Folgen einer tuberkulösen Meningitis stirbt, dann ist das nur zum Teil einem „unsteten“ Lebenswandel geschuldet. Schon als Kleinkind litt er an Rippenfellentzündungen, mit 14 Jahren erkrankt er an Typhus, und es folgt eine schwere Lungenerkrankung. Wochenlang schwebt Amedeo zwischen Leben und Tod.
Dass er die Schule abbrechen muss, kommt ihm nicht ungelegen, zumal er viel lieber zeichnet und mit 14 Jahren fundierten Unterricht bei Guglielmo Micheli nehmen kann. Allerdings steckt er sich im Atelier des Malers mit der um 1900 noch unheilbaren Tuberkulose an. Fortan wird sie ihn regelmäßig in die Knie zwingen. Dass Modigliani später in Paris die Bildhauerei nach einer vielversprechenden Phase wieder beendet, hat nicht zuletzt mit seiner körperlichen Schwächung zu tun.
Es ist ein ewiges Auf und Ab, dabei wird die Kunst auch zum Antrieb und Lebenselixier. Selbst in den Wirren des Ersten Weltkriegs und an der Côte d’Azur, wo Modigliani Zuflucht vor den deutschen Truppen sucht, hört er nicht auf zu malen – bis zu seinem frühen Tod im Januar 1920. Der Mythos vom kranken Künstlergenius lässt dann auch nicht lange auf sich warten.
1906, da ist Modigliani gerade 22 Jahre alt, zieht es ihn nach Paris. Auf dem Montmartre wird die Kunst umgekrempelt, und Modigliani wohnt ganz in der Nähe des legendären „Bateau-Lavoir“, dem heruntergekommenen Atelierhaus, in dem Picasso gerade dabei ist, sich zu seinen Demoiselles d’Avignon durchzuringen, und die Avantgarde den Kubismus und andere Visionen ausbrütet.
Im Gegensatz zum Spanier Picasso, über dessen Akzent man sich lustig macht, spricht der weltgewandte Modigliani fließend Französisch, zitiert Baudelaire und noch lieber Dante. Die Frauen fliegen auf den feinsinnigen Charmeur mit den leuchtenden Augen, genauso sind die Künstlerkollegen angetan vom freundschaftlich-offenen Wesen und den geistreichen Unterhaltungen. Mit seinem großen schwarzen Filzhut, dem Samtanzug und dem roten Schal fällt er zwar aus dem Rahmen, doch die gewandten Hände und der sichere Strich verraten die Professionalität.
Modigliani zeichnet in einer Tour: seinen Gönner, den Arzt Paul Alexandre, und natürlich die Gefährten, mit denen er sich durch Cafés und Tanztheater flirtet. Die Nacht wird bald zum Tag, die Bohème zieht den jungen Mann aus wohlbehüteten Verhältnissen magisch an – das gilt auch für selbstbestimmte, außergewöhnliche Frauen.
Zu ihnen zählt auch die Freundin Maud Abrantès, die sich wie Modigliani zu Literatur und Kunst hingezogen fühlt und die, offensichtlich morphiumsüchtig, von Modigliani in einem beeindruckenden Portrait festgehalten wurde.
In Europa rasseln überall die Säbel, doch am Montparnasse herrscht im Sommer 1914 immer noch ein faszinierend offenes Klima. Selbst nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs interessiert in Künstlerkreisen weniger die Nationalität als die Experimentierfreude. Der Aufbruch in die Moderne wird nicht zuletzt von Immigranten bestimmt, die in Paris den freien Austausch suchen und ganz nonchalant ihre Traditionen in die Avantgarde einbringen. Modigliani beobachtet präzise, malt seinen Umkreis und genauso neue Kollegen, die wie der Mexikaner Diego Rivera zur Inspiration an die Seine reisen.
Modiglianis Stil ist jetzt markant und unverwechselbar, gerade in der Reduktion auf das Wesentliche: Ganz direkt sehen die porträtierten Freunde dem Publikum entgegen, so, als wollten sie ihre künstlerischen Überzeugungen noch einmal mit dem eigenen Konterfei unterstreichen. Das gilt für Juan Gris wie Moïse Kisling und Chaïm Soutine, mit dem Modigliani ein besonderes Einvernehmen verbindet. Die Gesichter werden um 1915 noch flächiger, fast wie Scheiben. Augen und Nase sind durch einfache Konturen wiedergegeben, und man muss unwillkürlich an die bald 5000 Jahre alten Kykladen-Idole denken, die auch auf Brâncuşi und Picasso Eindruck gemacht haben.
Als Kind war Amedeo Modigliani von intellektuellen Frauen umgeben. Das hat ihn geprägt und bestimmt auch seinen Umgang mit Freundinnen und Geliebten. Sind sie musisch und literarisch gebildet, zieht in das umso mehr an. Das betrifft die gewandte, drogenabhängige Maud Abrantès – im reichen Bürgertum gehört Morphium fast zum guten Ton – und genauso Anna Achmatowa. Modigliani sieht in der russischen Dichterin eine Seelenverwandte, gemeinsam besuchen sie im Sommer 1910 die Pariser Museen, und er zeichnet die geistvoll schöne Bekanntschaft.
Ein eher aufreibendes On-Off-Verhältnis führt der Maler über zwei Jahre hinweg mit der sehr emanzipierten Schriftstellerin und Journalistin Beatrice Hastings. Er porträtiert die Britin ausgiebig, in Anspielung auf die Mätresse Ludwigs XV. trägt ein 1915 entstandenes Gemälde den vielsagenden Titel „Madam Pompadour“ – mit englischem „Madam“. Die beiden schenken sich nichts, Seitensprünge sind an der Tagesordnung, und 1916 geht die Verbindung dann auch auseinander. Denn Modigliani will mit der fast 14 Jahre jüngeren Jeanne Hébuterne zusammenziehen.
Die Liaison mit der Kunststudentin verläuft sehr viel harmonischer. Mehr als zwanzig Mal hat Modigliani seine letzte Gefährtin festgehalten, die Bilder erzählen von einem liebevollen Blick. In der turbulenten Zeit mit Hastings hat der Künstler allerdings zu seinem Stil gefunden, das heißt: zu den überlängten Hälsen, den geneigten Köpfen und mandelförmigen Augen.
Hosen, Krawatten und kurze Haare – sich als Frau wie ein Mann zu kleiden, sorgt kurz nach 1900 für Irritationen und gilt als skandalös. Dass das auch praktisch sein kann, interessiert keinen. Umso erstaunlicher ist es, dass Amedeo Modigliani schon während des Ersten Weltkriegs eine femme moderne nach der anderen malt: mit Pagenkopf oder Bob, ja selbst mit raspelkurzem Boy Cut wie ihn die Buchhändlerin Elena Povolozky trägt. Modigliani nimmt vorweg, was erst spät in den 1920erJahren Mode wird. Er hat aber auch Zugang zur Modeszene und zu queeren Kreisen.
Unter fortschrittlichen Künstlerpaaren ist es angesagt, sich androgyn zu kleiden. Moïse und Renée Kisling wirken mit ihren schlichten Anzügen und dem Bubikopf oder Coupe garçonne wie Zwillinge. Modigliani ist mit beiden gut befreundet.
Genauso trifft er sich mit Ossip Zadkine und dessen Freundin Nina Hamnett, die ihre bisexuellen Affären keineswegs verheimlicht. Die schillernde „Königin der Bohème“, wie Picasso sie nennt, leiht sich von Modigliani sogar eine Hose, um sich als „Apache“ verkleidet ins Pariser Nachtleben zu stürzen. Mit einer Tanzpartnerin. Kostüm- und Atelierfeste sind in Paris übrigens willkommene Gelegenheiten, die Rollen zu tauschen.
Parallel zu den Porträts befasst sich Modigliani wieder intensiv mit der Aktmalerei. Picassos 1907 entstandene Demoiselles d'Avignon sind 1916 erstmals in der Öffentlichkeit zu sehen und ringen dem Italiener eine Antwort ab. Mit der Dekonstruktion der Figur hat er nichts am Hut, vielmehr knüpfen seine unbefangen sich räkelnden Nackten an traditionelle Darstellungen an – und sprengen doch ihren Rahmen.
Er bevorzugt harte Anschnitte, steigert das Inkarnat hin zu einem fast pompejanischen Rot, und mit den Proportionen nimmt er es auch nicht sonderlich genau. Vielleicht ist Modigliani der einzige Moderne, der sich ohne Vertun auf die Renaissancemalerei bezieht. Seine Akte gewinnen so etwas Überzeitliches, Klassisches.
Das sind keine misslich abhängigen Prostituierten, wie unverdrossen behauptet wird. Und der Skandal, den Modiglianis einzige Soloschau 1917 hervorruft, ist auch keiner: Im Schaufenster der Galeristin Berthe Weill an der Pariser Rue Taitbout wird ein Akt Modiglianis ausgestellt und sorgt bei Polizisten den nahen Polizeiwache für Unmut. Berthe Weill kommt der Schließung zuvor, indem sie den „Akt des Anstoßes“ aus ihrem Schaufenster entfernt. Es ist die Schambehaarung, die dem Chef der Polizeiwache missfällt. Womöglich auch der direkte Blick? Das Selbstbewusstsein, das zum Ausdruck kommt?
Sucht man nach Entsprechungen für die Kunst Modiglianis, so wird man weniger in Paris als unter den Kollegen im deutschsprachigen Raum fündig. Um Unmittelbarkeit und Natürlichkeit ging es August Macke ebenso wie Ernst Ludwig Kirchner, und wie Modigliani distanzierten auch sie sich von einer Darstellung der Frau als femme fatale.
Seine Bilder besitzen eine unendliche Würde und Vornehmheit. Man wird ihn ihnen nichts Gewöhnliches, Grobes oder Banales finden.
Der Krieg rückt näher: Im März 1918 flieht Modigliani mit Jeanne Hébuterne vor den Bomben in den Süden nach Cagnes-sur-Mer und Nizza. Der Zustand des lungenkranken Künstlers hat sich seit Monaten verschlechtert, und das milde Mittelmeerklima verspricht Besserung. Das Paar wird über ein Jahr an der Côte d’Azur bleiben. Kurz nach dem Waffenstillstand im November 1918 kommt die gemeinsame Tochter Jeanne zur Welt, doch die Hochzeit scheitert, weil Modigliani die nötigen Dokumente fehlen.
In dieser Phase beginnt er sogar, Landschaften zu malen, die nicht nur durch die zarten Farben an Paul Cézanne erinnern. Vor allem aber bildet sich Modiglianis „klassizistischer“ Spätstil heraus. Die Konturen längen sich weiter, werden weicher und die locker aufgetragenen Pastelltöne freundlicher. Harmonie und Schönheit spielen mehr und mehr eine Rolle, und die Gesichter mit den oft pupillenlosen Augen wirken wie entrückt.
An der Côte d’Azur porträtiert Modigliani Dienstmädchen, Verkäuferinnen – und zum ersten Mal Kinder. Jeanne, die Liebe seines Lebens, ist sein bevorzugtes Modell, doch dem Paar bleibt nicht mehr viel gemeinsame Zeit.
Modigliani erkrankt erneut an Tuberkulose, heftiger denn je. Zurück in Paris stirbt der Künstler am 24. Januar 1920 mit nur 35 Jahren. Jeanne sieht keine Zukunft mehr und nimmt sich am Tag darauf das Leben.
Der Tod nahm ihn, als er zu Ruhm gelangte
Wie ein langer Schatten hat sich dieses erschütternde Ende über das Schaffen Modiglianis gelegt. Dabei begann der Maler, mit seinen Werken endlich in Paris und sogar in London präsenter zu werden, Erfolge stellten sich ein. All die unkonventionellen Frauen, die Modigliani so sinnlich wie ernsthaft ins Bild gesetzt hat, erzählen ohnehin, wie sehr dieser Künstler über seine Zeit hinausgedacht hat.