Impressionismus in Russland
In der französischen Kunstmetropole Paris begegneten die russischen Maler des ausgehenden 19. Jahrhunderts dem Impressionismus. Zurück in Russland malten sie en plein air und spürten dem flüchtigen Moment in Szenen des russischen Alltags nach. Nicht nur die russischen Realisten, auch die jungen Künstler der russischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert inspirierte die impressionistische Lichtmalerei.
Von Repin bis Malewitsch
Die Ausstellung im Museum Barberini zeigt in über 80 Werken von Ilja Repin bis Kasimir Malewitsch die Internationalität der Bildsprache um 1900 und beleuchtet ein spannendes, bislang kaum beachtetes Kapitel des Impressionismus.
Dieser Barberini Prolog illustriert den intensiven Austausch von Künstlern, Motiven und Ideen über Nationengrenzen hinweg. Lebhaft, eigensinnig und vielfältig griffen russische Malerinnen und Maler die impressionistische Bildsprache auf und entwickelten sie weiter: in sonnigen Landschaften, lebendigen Portraits ihrer Zeitgenossen und unmittelbar erfassten Momenten der russischen Lebenswelt. In ihren malerischen Experimenten loteten sie neue Möglichkeiten aus.
Im späten 19. Jahrhundert kamen zahlreiche russische Maler nach Paris. Sie tauchten in das Leben der modernen Großstadt ein und erlebten den Verkehr, das Tempo, das Gedränge auf den Boulevards und die hell erleuchteten Nächte.
Mit dem russischen Realismus, den die Kaiserliche Akademie in St. Petersburg und die Moskauer Hochschule sie gelehrt hatte, ließ sich diese aufregende Stadt nicht erfassen. Im Impressionismus begegnete ihnen eine Malerei, die dem Pariser Lebensgefühl entsprach.
Korowin und Tarkhoff in Paris
Der russische Maler Konstantin Korowin machte in Frankreich ab 1887 Bekanntschaft mit den französischen Impressionisten. Ihn sprachen deren lockere Pinselführung, die vibrierenden Lichteffekte und lebendigen Sujets an. Immer wieder kehrte er in den folgenden Jahren nach Paris zurück. Auch sein Schüler Nicolas Tarkhoff malte hier die Cafés und Boulevards bei wechselnden Wetterlagen und zu verschiedenen Tageszeiten. Tarkhoffs Erfolg war international: Mit den Impressionisten stellte er in Berlin, Venedig und Moskau aus.
Konstantin [Korowin] liebte Paris, er liebte die lärmende, bunte Menge auf den Boulevards. Die Freundlichkeit und Lebensfreude der Franzosen war ganz nach seinem Geschmack.
Der französische Impressionismus ermutigte die russischen Künstler zu malerischer Freiheit und thematischer Leichtigkeit. Das Malen unter freiem Himmel veränderte ihre Werke.
Statt der inhaltsschweren, gesellschaftskritischen und ernsthaften Themen des russischen Realismus griffen die russischen Künstler nun Momente aus ihrem eigenen Leben auf. In sonnigen Alltagszenen mit Freunden und Familienmitgliedern wurde das Private bildwürdig.
Der große Realist Ilja Repin war einer der ersten russischen Künstler, die das Potenzial des Impressionismus erkannten.
Mit einem Stipendium der Akademie von St. Petersburg lebte er ab 1873 einige Jahre in Frankreich. Zurück in Russland malte er Auf dem Feldrain. Das Gemälde zeigt seine Frau Vera mit den Kindern und ihrer Gouvernante bei einem Spaziergang auf dem Land in der Nähe Moskaus: Ein Motiv ganz im Sinne von Claude Monet.
Konstantin Korowins kleines Gemälde Im Sommer. Flieder von 1895 wirkt wie die Studie einer Gartenecke mit Regentonne. Das am Flieder riechende Mädchen scheint spontan hinzugekommen. Die in der russischen Kunst traditionell verwurzelte Hierarchie zwischen der Hauptsache und dem Nebensächlichen im Bild ist in Korowins Gemälden aufgehoben. Was zählt, ist der mit allen Sinnen erfasste Moment.
Mein wichtigstes, einziges und unermüdlich verfolgtes Ziel in der Kunst der Malerei war immer die Schönheit, ... die Bezauberung durch Farbe und Form. Niemals jemanden belehren, keinerlei Tendenz, keinerlei Protokoll.
Wie viel weltläufige Eleganz und momenthafte Leichtigkeit verträgt der russische Realismus? Die Portraitmaler loteten diese Frage aus, indem sie bekannte Persönlichkeiten Russlands mit spontanem Ausdruck darstellten. Ihre Bildnisse verraten den Einfluss des Impressionismus, ohne den Anspruch aufzugeben, auch den Charakter und die Persönlichkeit der Dargestellten zu erfassen.
Die Menschheit hat immer diejenigen Kunstwerke geschätzt, die möglichst vollständig das Drama des menschlichen Herzens oder, einfach gesagt, den inneren Charakter eines Menschen ausdrücken.
Lässig posiert der Maler Alexander Dmitrijewitsch Litowtschenko mit einer Zigarre in der Hand. Das Portrait gab der Sammler Pawel Tretjakow bei dem Portraitmaler Iwan Kramskoi in Auftrag. Als Gründungsmitglied der Gruppe Peredwishniki („Wanderer“), einer der einflussreichsten russischen Künstlerbewegungen im 19. Jahrhundert, war Kramskoi dem kritischen Realismus verpflichtet. Aber er reiste 1876 nach Paris, um den Impressionismus kennenzulernen. Sein sichtbarer Pinselstrich verrät die Auseinandersetzung mit Edouard Manet.
Als ich an Litowtschenkos Portrait herantrat, wich ich zurück: Ich sah ihn leibhaftig vor mir, dabei kenne ich ihn nicht persönlich. Was für ein Zauberer ist dieser Kramskoi! Das ist keine Leinwand – das ist das Leben ...
Der Maler Konstantin Korowin malte die aufstrebende Opernsängerin Tatjana Spiridonowna Ljubatowitsch 1889. Beide gehörten zum Kreis um den Unternehmer und Mäzen Sawwa Mamontow. Auf seinem Landgut Abramzewo bei Moskau entstand eine Künstlerkolonie aus Schriftstellern, Komponisten und Malern. Fern der Zwänge des offizielles Kunstbetriebs im zaristischen Russland konnten sich in Abramzewo neue künstlerische Strömungen wie der Impressionismus entfalten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts traf eine zweite Generation russischer Künstler in Paris ein. Für sie wurde die Farbe zu einer starken, neuen Kraft.
Wie schon die französischen Postimpressionisten und Fauvisten arbeiteten sie mit leuchtenden, reinen Tönen und steigerten so die expressive Wirkung. In kraftvollen Pinselstrichen trugen sie satte Farben auf und verliehen damit ihrer Malerei eine Leuchtkraft, die es in der russischen Kunst bis dahin nicht gegeben hatte. Die Farben erhielten eine eigene Bedeutungsperspektive, losgelöst vom dargestellten Motiv. Auch international wurden die Künstler wahrgenommen.
Es ist an der Zeit, dass wir damit aufhören, den Pariser Moden nachzulaufen, (...) und unseren eigenen Charakter entwickeln. Mögen Nationalstolz, Selbsterkenntnis und Selbstachtung uns dabei helfen, die unerschöpfliche Schönheit unserer Heimat noch tiefer ins Herz zu schließen.
In Mädchen mit gelbem Tuch nutzte Wladimir Burljuk die neoimpressionistische Tüpfeltechnik für ein volkstümliches russisches Motiv. Die junge Frau mit Kopftuch und Schürze erinnert an traditionelle Bauerndarstellungen. Aber sie sitzt nicht vor einem Bauernhaus oder in ländlicher Natur, sondern in einem lichten Atelier. Auch die pointillistische Malweise, etwa bei der farbenfrohen Kleidung, verwandelt das althergebrachte Sujet und schafft eine flirrende, moderne Farbwirkung.
Auffällig in allen Werken von Abram Archipow ist der dominante Einsatz von Rot. In Russland kommt der Farbe eine ganz eigene Bedeutung zu: Das russische Wort für Rot – „krasnaja“ – ist etymologisch mit dem Wort „krasny“ – schön – verwandt. In der Ikonenmalerei der russisch-orthodoxen Kirche kennzeichnet Rot das Göttliche. An diese Tradition knüpften auch die Bolschewiki an, die nach 1917 unter dem Banner des roten Sterns eine neue visuelle Kultur etablierten.
Studium in München
Während es viele russische Künstler nach Paris zog, entwickelte sich etwa zeitgleich auch die Malschule von Anton Ažbe in München zu einem wichtigen Ort für angehende Maler aus Russland. Ažbe lehrte seine Studenten, Alexej von Jawlensky oder Wassily Kandinsky, ungemischte Farben direkt auf die Leinwand aufzutragen. Jawlensky hatte zuvor in Russland bei Repin studiert. Nun wechselte er zu einer leuchtenden Farbpalette. Die mit leichter Hand gemalten Gesichter von Andrei und Katja kündigen bereits Jawlenskys expressionistische Malweise an.
Die Landschaftsmalerei war in der russischen Kunst ein ganz neues Themengebiet. Angeregt vom Impressionismus erkundeten die Maler das ländliche Umfeld von Moskau und St. Petersburg, um unter freiem Himmel zu malen.
Manche bereisten die Weiten Russlands bis hoch in den Norden. Wie ihre französischen Kollegen nutzten sie das wachsende russische Eisenbahnnetz, um aus den pulsierenden Städten hinaus aufs Land zu gelangen. Doch nicht allein die Wiedergabe flüchtiger Lichteffekte und atmosphärischer Phänomene interessierte die russischen Künstler. Sie suchten in der Natur das Gefühl, die subjektive und poetische Stimmung der russischen Landschaften.
Was für ein furchtbarer Fehler, französischen Farbschattierungen nachzujagen, wenn man hier so viel Schönheit findet.
Peredwishniki. Die Wanderer
Abram Archipow, Valentin Serow und Sergei Winogradow gehörten dazu: Die Peredwishniki – zu Deutsch „Wanderer“ – bildeten die erste unabhängige Künstlervereinigung Russlands, die Genossenschaft für Wanderausstellungen. Sie hatten sich 1870 aus Protest gegen die starren Dogmen der Kaiserlichen Akademie der Künste, St. Petersburg, zusammengeschlossen. In ihren Gemälden wandten sie sich dem Leben der einfachen Landbevölkerung zu. Mit den Wanderausstellungen, denen die Peredwischniki ihren Namen verdankten, gingen die Künstler in die russische Provinz und brachten ihre Malerei der breiten Öffentlichkeit nahe.
Sommerhäuser boten ein Refugium für ein unbeschwertes Leben auf dem Land. Teils nobler Landsitz, teils einfaches Holzhaus war die Datscha mehr als ein Ferienhaus. Hier genoss man Ruhe und frische Luft ebenso wie ungezwungene Geselligkeit.
Auf der Datscha malten die Moskauer Impressionisten lichtdurchflutete Interieurs. Das Studium des Lichts in Innenräumen und auf alltäglichen Gegenständeninspirierte die Künstler zu Stillleben, die an der Kaiserlichen Akademie der Künste zuvor gering geachtetwurden und als wenig anspruchsvoll galten. Mit dem neuen impressionistischen Blick für die Reize des Alltäglichen änderte sich dies. Frei von inhaltsschweren Themen wurden neue malerische Ausdrucksformen erprobt.
Ein beliebtes Motiv auf der Datscha waren neben der Darstellung von Innenräumen auch Szenen auf der Terrasse. Dabei spielten Elemente verschiedener Gattungen zusammen: Naturdarstellung, Stillleben und Genre. An der Schwelle zwischen Innen- und Außenraum verschmelzen Figuren und Objekte zu einem vom Sonnenlicht durchfluteten, harmonischen Ganzen.
Olga Rosanowas frühes Gemälde Blumen auf der Fensterbank verrät ihre Kenntnis des französischen Postimpressionismus. Die Künstlerin gehörte wie Natalja Gontscharowa später zu den treibenden Kräften der russischen Avantgarde. Seit 1906 setzte sie sich mit westlichen Kunstströmungen auseinander, auch wenn sie selbst nie ins Ausland reiste.
Der Künstler darf die Natur nicht passiv nachahmen, sondern muss sich zum aktiven Sprachrohr seiner Beziehung zur Natur machen.
Michail Larionow gehörte zu den wichtigsten Künstlern der frühen Avantgarde, die mit ihrer radikalen Ästhetik die russische Kunst zur Moderne führten. Entscheidend für seine künstlerischen Anfänge war die Auseinandersetzung mit dem Impressionismus. Besonderen Eindruck auf ihn machten die Werke von Claude Monet. Dessen Gemälde Flieder in der Sonne studierte er in der Privatsammlung von Sergei Schtschukin.
Das Experimentieren in der Landschaft ermutigte die russischen Künstlerinnen und Künstler zu malerischer Freiheit. Der temperamentvolle, rasche Pinselstrich wird dabei zum Ausdrucksträger: Die individuelle künstlerische Handschrift entfaltet sich unabhängig vom Motiv. Die späteren Pioniere der russischen Avantgarde lösten sich in ihren impressionistisch inspirierten Frühwerken vom naturgetreuen Realismus ihrer Vorgängergeneration.
Ich habe alles, was mir der Westen geben konnte, gelernt [...] jetzt schüttle ich den Staub von meinen Füßen ab und verlasse den Westen, [...] mein Weg verläuft zur Quelle aller Kunst, dem Osten.
Vom Mond geht ein Strahlen als heller Kreis aus, in seiner Nähe himmelblaues Perlmutt. Die Wolken – graue Massen auf einem Schleier von himmelblauem Perlmutt. (...) Rosa, lila, grüne Fernen.
Winterliche Landschaften mit ihren Lichteffekten fesselten schon Claude Monet und Camille Pissarro. Auch die russischen Künstler zeigten sich von den verschneiten Ansichten ihrer Heimat fasziniert. Denn Schnee ist nicht nur weiß: Seine reflektierende Oberfläche kann alle Farben annehmen.
Winter, Schnee und Eis sind seit jeher wichtige Themen in der russischen Kultur.
Väterchen Frost als Personifikation des Winters beschenkt in der Neujahrsnacht die Kinder. Alexander Puschkin dichtete über die „puderweiß geschmückten Felder“ seiner Heimat. Und historisch gesehen bezwang der erbarmungslose russische Winter mit klirrender Kälte und Schneemassen so manche feindliche Armee. Für die Malerei liegt der Reiz der russischen Winterlandschaft gerade in den Beschränkungen des Motivs. Wenn Schnee alles zudeckt, wirken die Effekte von Schatten und Wintersonne auf der kristallinen weißen Decke umso stärker.
Die Künstlerinnen und Künstler der russischen Avantgarde entwickelten eine bahnbrechend neue Formensprache und reagierten damit auf die Dynamik einer neuen Zeit.
Gesellschaftliche Konflikte führten ab 1905 in Russland zu revolutionären Unruhen. Aber sie knüpften zugleich an die Lichtmalerei des Impressionismus an. Dieser bildete den Ausgangspunkt ihres radikalen Aufbruchs. Im regen internationalen Austausch mit dem Kubismus, Futurismus und Expressionismus befreiten sie Licht und Farbe als künstlerische Kraft. Statt das Licht als Naturphänomen zu beobachten, wie die Impressionisten, machten die Pioniere der Avantgarde es zu einem Element ihrer ungegenständlichen Welt.
Farbe ist auch Licht, Licht ist auch Farbe – je nach den Umständen
Der Maler Georgi Jakulow entwickelte eine eigene malerische Theorie des Lichts. In seinem Gemälde Bar von 1915 greift er ein Motiv auf, das schon die Impressionisten faszinierte: das großstädtische Vergnügungsleben. In Paris hatte er das Künstlerpaar Sonia und Robert Delaunay kennengelernt, deren farbintensiver Orphismus seinen eigenen Bestrebungen entsprach. Die farbig zergliederte Bildfläche erinnert an den Blick in ein Prisma, welches das Licht in Spektralfarben zerlegt.
1913 veröffentlichten Natalia Gontscharowa und Michail Larionow das Rayonistische Manifest. Es handelte von der vierten Dimension des Lichts. Das gesamte Bildfeld der Rayonistischen Komposition Stadt bei Nacht ist in parallel gesetzte Flächen aufgesplittert, die Lichtbündeln gleichen. Larionowsabstrakte Darstellung lässt an die pulsierende Dynamik der nächtlichen Stadt denken. Er setzte die reale Wahrnehmungserfahrung einen reinen, pulsierenden Farblichtraum um.
Ich begriff, dass es dem Impressionismus nicht um die haargenaue Wiedergabe von Erscheinungen oder Gegenständen ging, sondern einzig und allein darum, wie ich mich mit meiner ganzen Energie zu der rein malerischen Qualität verhielt, die diese Erscheinungen transportierten oder in sich trugen.
In den Jahren nach 1915 suchte Kasimir Malewitsch nach einer gegenstandlosen Malerei, die reine Empfindung vermitteln sollte. In dieser Suprematismus genannten Phase wählte er zunächst schwarze oder bunte Formen, die vor weißem Bildgrund schweben. Die Serie Weiß auf Weiß sah er als den Schlusspunkt einer Entwicklung, die mit dem Impressionismus begonnen hatte. In dem Gemälde Konstruktion in Auflösung (Drei Bögen auf diagonalem Element in Weiß) absorbiert das bildbestimmende Weiß alle Formen. Licht und Raum verschmelzen.