Van Gogh
„Stillleben sind der Anfang von allem“, erklärte Vincent van Gogh seinen Schülern. Über 170 Stillleben hat der Maler in den wenigen Jahren seines Schaffens von 1881 bis zu seinem Tod 1890 angefertigt.
Noch nie zuvor hat eine Ausstellung speziell dieses Thema beleuchtet. Dabei sind die Stillleben Van Goghs außerordentlich aufschlussreich. Anhand dieses Genres lässt sich seine rasante künstlerische Entwicklung nachvollziehen – von den ersten, dunkeltonigen Malexperimenten bis zu den expressiven, voller Leben pulsierenden Gemälden seines Spätwerks. Der folgende Streifzug führt von den Niederlanden über Paris bis nach Südfrankreich und durchmisst das Œuvre eines der großen Pioniere der Moderne.
Vincent van Gogh war bereits 27 Jahre alt, als er sich 1880 der Kunst zuwandte. Nachdem er ein Jahr mit Zeichenübungen im Selbststudium verbracht hatte, griff er 1881 zu Pinsel und Palette.
Er nahm Unterricht bei seinem Cousin Anton Mauve, einem angesehenen Maler der Haager Schule. Stillleben boten ihm einen dankbaren Einstieg in sein neues Metier und wurden fortan zu seinem künstlerischen Experimentierfeld. Zahlreiche Briefe, die Vincent an seinen Bruder Theo van Gogh schrieb, geben Einblicke in sein Leben und die Entwicklung seiner Malerei.
Nun bin ich von ihm [Mauve] mit ein paar gemalten Studien und ein paar Aquarellen zurückgekommen. Natürlich sind das keine Meisterwerke, aber trotzdem, ich glaube wirklich, dass etwas Gesundes und Wirkliches darin steckt, zumindest mehr als in dem, was ich bisher gemacht habe. Und deshalb rechne ich jetzt damit, am Anfang von etwas Ernstzunehmendem zu stehen. […] Theo, was sind Ton & Farbe doch für großartige Dinge! Und wer nicht lernt, ein Gefühl dafür zu haben, wie fern bleibt er doch dem Leben! M[auve] hat mir beigebracht, so vieles zu erkennen, was ich früher nicht sah.
Van Gogh setzte sich intensiv mit der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts auseinander. In Museen – etwa dem Rijksmuseum in Amsterdam – studierte er die großen Vorbilder.
Insbesondere die lockere, ausdrucksstarke Helldunkelmalerei von Rembrandt oder Frans Hals bewunderte er und schuf seine ersten Gemälde in der dunkeltonigen Manier der Niederländer. Während die Stillleben der Alten Meister häufig der Darstellung von Pracht und Exotik oder der Vermittlung einer bestimmten Aussage durch Symbole dienten, malte Van Gogh einfache, alltägliche Gegenstände wie Obst und Gemüse.
In seinen ersten Stillleben, die Van Gogh bis 1885 malte, nahm er Objekte des ländlichen Alltags in den Blick: Haushaltsgegenstände und der Jahreszeit entsprechend Äpfel, Birnen, Kürbisse oder Kartoffeln.
Er beschränkte seine Palette auf wenige gedämpfte Farben, hauptsächlich Brauntöne, die er teilweise mit Rot oder Grün mischte. Ging es Van Gogh zunächst um das räumliche Verhältnis der Dinge zueinander, so beschäftigte ihn bald der Einsatz von Farbkontrasten und -nuancen.
Meine Studien habe ich genau wie Gymnastik gemacht, um im Ton ab- und aufzusteigen.
Über aktuelle Farbtheorien des 19. Jahrhunderts informierte sich Van Gogh anhand einschlägiger Fachbücher.
Charles Blancs Grammaire des arts du dessin (1867) und das darin formulierte Phänomen der Simultankontraste beeinflusste ihn nachhaltig. Laut Blanc verstärkt sich die Wirkung der auf dem Farbkreis gegenüberliegenden Töne wechselseitig, wenn diese unmittelbar nebeneinander platziert werden. In seinen Stillleben konzentrierte sich Van Gogh ab 1885 darauf, die Form der Dinge nicht mehr mit Linien zu beschreiben, sondern mit Farben und Farbnuancen zu modellieren.
Mit seinem Umzug nach Paris 1886 ließ Van Gogh die Niederlande und damit auch die erdigen Farbtöne sowie die Themen aus der bäuerlichen Lebenswelt hinter sich.
In den zwei Jahren seines Aufenthalts in der französischen Hauptstadt entwickelte er eine hellere, reichere Palette und einen individuellen Stil. Sein künstlerischer Durchbruch bereitete sich in Blumenstillleben vor, von denen er in Paris mehr als 30 schuf. Das Motiv ermöglichte ihm, seine Verbundenheit mit der Natur auch im neuen Umfeld der Großstadt aufrechtzuerhalten.
Ich habe eine Reihe von Farbstudien gemacht, indem ich einfach Blumen gemalt habe, rote Mohnblumen, blaue Kornblumen und Vergissmeinnicht, weiße und rosa Rosen, gelbe Chrysanthemen.
Wie intensiv Van Gogh in seiner Pariser Zeit Blumenstillleben für malerische Erprobungen nutzte, zeigt sich in der stilistischen Vielfalt dieser Gemälde.
Nach den von dramatischen Helldunkelkontrasten bestimmten Werken schuf er heitere Bilder voller Licht und Farbenpracht. Anregungen erhielt er von den Blumenstudien zeitgenössischer Maler wie Adolphe Monticelli, Claude Monet und Édouard Manet. Zu dieser Zeit erfreute sich die Blumenmalerei in Paris großer Beliebtheit: Bürgerliche Käuferschichten schätzten das dekorative Sujet als Wandschmuck. So hoffte auch Van Gogh bei dieser Motivwahl auf bessere Verkaufschancen für seine Werke.
Neben japanischen Farbholzschnitten gehörten die Werke der Impressionisten und Pointillisten zu Van Goghs wichtigsten künstlerischen Entdeckungen in Paris.
Auch wenn er sich keiner dieser Strömungen zugehörig fühlte, bezog er aus den verschiedenen Ansätzen wichtige Anregungen. Zum Ende seiner Pariser Zeit 1888 war seine eigene Handschrift unverkennbar: Er löste sich von der reinen Abbildung der Wirklichkeit und dynamisierte das vermeintlich statische Genre des Stilllebens, als seien den dargestellten Dingen die Emotionen des Malers einverleibt und als führte die Farbe ein Eigenleben.
In Paris vollzog Van Gogh eine Wende zur Modernität.
Er experimentierte mit der Tüpfeltechnik von Pointillisten wie Paul Signac, versuchte sich mit verdünnter Farbe wie Henri de Toulouse-Lautrec und setzte die aus japanischen Farbholzschnitten übernommene Perspektiven und Flächigkeit ein. Auch die Besuche der Pariser Museen dienten ihm als eine wichtige Inspirationsquelle. All diese Einflüsse und Experimente verdichtete Van Gogh zu einem individuellen Stil: dynamische Pinselführung mit kräftigen, parallel gesetzten Farbstrichen, flächiger Bildaufbau und der Einsatz von Komplementärkontrasten.
Nach zwei Jahren in Paris entschied sich Van Gogh im Februar 1888 für einen Rückzug aus der Großstadt.
Im südfranzösischen Arles hoffte er, mit dem befreundeten Maler Paul Gauguin eine Künstlergemeinschaft zu gründen. Begeistert vom südlichen Licht und der überbordenden Natur, arbeitete er vor allem an Landschaftsdarstellungen. Sein langjähriges Bestreben, ein Gemälde nur in gelben Farbtönen zu gestalten, verwirklichte er schließlich in seiner wahrscheinlich berühmtesten Werkserie, den Sonnenblumen.
In der Hoffnung, mit Gauguin in einem Atelier zu leben, das uns gehört, würde ich gern eine Dekoration für das Atelier machen. Nur große Sonnenblumen. [...] Wenn ich diesen Plan ausführe, werden es ungefähr zwölf große Tafeln sein. Das Ganze also eine Sinfonie in Blau und Gelb. Ich arbeite jeden Morgen daran, sobald die Sonne aufgegangen ist. Denn die Blumen welken schnell, und es geht darum, das Ganze in einem Zug zu machen.
Ende 1888 kam es zum dramatischen Ende der zweimonatigen Zusammenarbeit mit Paul Gauguin in Arles. Im Verlauf eines heftigen Streits mit ihm hatte sich Van Gogh einen Teil seines linken Ohres abgeschnitten und musste im örtlichen Krankenhaus behandelt werden.
Im Januar 1889 kehrte er an die Arbeit zurück. Aufgrund seines labilen Zustands ließ er sich jedoch einige Monate später freiwillig in die Psychiatrie nahe Saint-Rémy einweisen. Innerhalb nur eines Jahres schuf Van Gogh dort rund 140 Gemälde, darunter hauptsächlich Landschaften, jedoch nur wenige Stillleben.
Morgen mache ich mich wieder an die Arbeit, ich fange mit ein oder zwei Stillleben an, um mich wieder an das Malen zu gewöhnen.
Stillleben galten in Van Goghs Zeit als ein leidenschaftsloses Thema, dem Dekorativen verpflichtet und entsprechend nicht für den Ausdruck von Gefühlen geeignet. Van Goghs Stillleben sind hingegen häufig symbolisch aufgeladen und legen eine existenzielle Aussage nahe. Das Gemälde Stillleben mit einem Teller Zwiebeln entstand im Januar 1889, unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in Arles, und gleicht einem Selbstportrait. Tatsächlich erzählen die gemalten Dinge viel über Van Goghs Lebenssituation.
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Tabakbeutel, Pfeife und eine leere Absinthflasche deuten die kleinen Freuden des Alltags an, die Van Gogh sich bisweilen gönnte.
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Die brennende Kerze steht für Paul Gauguin, dessen Abreise direkt nach dem Streit im Dezember 1888 den Traum von einer Künstlergemeinschaft nach nur zwei Monaten beendet und Van Gogh in eine schwere psychische Krise gestürzt hatte.
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Der Brief verweist auf seinen Bruder Theo van Gogh und auf die Bedeutung, die ihre Korrespondenz für den Künstler hatte.
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Bei dem Buch Annuaire de la santé handelt es sich um ein medizinisches Magazin, das Van Gogh offenbar in der Hoffnung auf Besserung seiner körperlichen Verfassung konsultiert hatte.
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Mit den Zwiebeln im Mittelpunkt des Gemäldes dürfte sich Van Gogh selbst gemeint haben. Zwiebeln werden mit Tränen und Schärfe verbunden, die ausgreifenden grünen Triebe können aber auch für Wachstum und Selbstentfaltung stehen.
Nach einjährigem Klinikaufenthalt nahe Saint-Rémy zog Van Gogh im Frühling 1890 nach Auvers bei Paris. Dort müssen die blühenden Kastanien dem für Natureindrücke empfänglichen Van Gogh ein Gefühl von großer Vitalität vermittelt haben.
In unermüdlichem Schaffensdrang erreichte seine expressive Malweise ihren Höhepunkt. Bis zu seinem Tod am 29. Juli schuf er innerhalb von nur zwei Monaten knapp 80 Gemälde, darunter zehn Stillleben.
Wir [VvG und Dr. Paul Gachet] sind sofort sozusagen Freunde gewesen, und ich werde jede Woche ein oder zwei Tage bei ihm verbringen, um in seinem Garten zu arbeiten, von dem ich schon zwei Studien gemalt habe, die eine mit einigen südlichen Pflanzen, Aloen, Zypressen, Ringelblumen, die andere mit weißen Rosen, Weinstöcken und einer Figur. Dann ein Strauß Ranunkeln. [...] Aber in letzter Zeit in St-Rémy habe ich wieder wie ein Wilder gearbeitet, vor allem an Blumensträußen. Rosen und violette Schwertlilien.