Eine neue Kunst
Im 19. Jahrhundert wählten zahlreiche Photographen die gleichen Motive wie die Maler des Impressionismus: den Wald von Fontainebleau, die Steilküste von Étretat oder die moderne Metropole Paris. Auch sie studierten die wechselnden Lichtsituationen und Wetterlagen. Dabei arbeiteten sie mit allen Tricks, ständig auf der Suche nach dem perfekten Bild.
Dialog und Konkurrenz
Von Anfang an verfolgte das neu erfundene technische Medium einen künstlerischen Anspruch. Photographie und Malerei spornten sich gegenseitig an: Konkurrenz und Anregung kennzeichneten das Wechselspiel der beiden Künste.
Die Ausstellung beleuchtet diese spannende Entwicklung von den 1850er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg. Sie zeigt Meisterwerke der frühen Photographie von Gustave Le Gray, Alfred Stieglitz, Louise Deglane und Heinrich Kühn. Zwischen ihren Aufnahmen und den Gemälden des Impressionismus aus der Sammlung Hasso Plattner tun sich erstaunliche Parallelen auf.
Der Barberini Prolog zur Ausstellung ...
... zeigt auf, wie Photographie und Malerei aufeinander reagierten. Ob am Meer, auf den Boulevards der Stadt oder auf verschneitem Feld: ihre Arbeiten halten den flüchtigen Augenblick fest — und damit das Lebensgefühl der Moderne.
Dass die Photographie eine gänzlich mechanische Wissenschaft ist (…), können wir nicht zugeben. (…) wir glauben, dass sie mit der Zeichenkunst auf gleicher Höhe steht (…)
Majestätische Weite
Als Ausdruck grenzenloser Weite waren Wolkenbilder und Seestücke mit der Idee des Erhabenen verknüpft – also der Natur als einer majestätischen und unbezwingbaren Urgewalt. Das unablässig bewegte Meer kam dem Wunsch der Impressionisten entgegen, flüchtige Sinneseindrücke möglichst unmittelbar auf die Leinwand zu bannen. Auch die frühe Photographie setzte sich intensiv mit Darstellungen von Himmel und Meer auseinander. Sie verfolgte dabei sowohl künstlerische wie auch wissenschaftliche Ambitionen.
Zu den bedeutendsten frühen Photographen zählte Gustave Le Gray. Ab 1856 fertigte er eine Reihe von detailscharfen Meeresansichten mit hohem künstlerischen Anspruch an. Ihm gelang es erstmals, die Brandung nuanciert wiederzugeben. Da die Wiedergabe von Himmel und Meer unterschiedliche Belichtungszeiten erforderte, kombinierte Le Gray teilweise zwei Negative.
(…) die größte Leistung, die wir je in der Photographie erlebt haben.
Wie die Maler hielten die Photographen verschiedene Lichtstimmungen experimentell fest. Nachtaufnahmen mit der Kamera waren anfangs aufgrund der lichtschwachen Objektive nicht möglich. Henry Stuart Wortley richtete seine Kamera bei bewölktem Himmel direkt gegen die Sonne, um dramatische Lichteffekte zu erzielen, die er als Mondlichteffekte ausgab.
Wie bricht eine Welle? Die Chronophotographie erfasste komplexe Bewegungsabläufe durch schnell hintereinander geschaltete Aufnahmen exakter als das menschliche Auge es vermag. Nicht nur die Naturwissenschaften profitierten davon. Auch Maler griffen darauf zurück.
Mitte des 19. Jahrhunderts rückte die Beobachtung und Erforschung von Wolken in den Fokus der Wissenschaft. Meteorologische Institute in Berlin, London und Paris wurden gegründet, Wolkenbilder erstmals systematisch klassifiziert. Die Photographie half dabei.
Die technischen Möglichkeiten, flüchtige Wetterphänomene mit zunehmender Genauigkeit festzuhalten, machten die Photographie auch zu einem wichtigen Hilfsmittel der metereologischen Forschung. Die Blitzphotographie lieferte neue Erkenntnisse zur elektrischen Funkenentladung. Aber sie veränderte auch die Landschaftsmalerei. Fortan wurden Blitze nicht mehr als einfache Zickzackformen wiedergegeben.
Zentrum der Moderne
Paris war eine Stadt im Umbruch. Ganze Straßenzüge des mittelalterlichen Stadtkerns wurden seit den 1850er Jahren abgerissen. Ambitionierte Neubauten in einem einheitlichen Architekturstil wuchsen empor.
Breite Boulevards und Alleen brachten Luft und Licht in die Hauptstadt. Auf ihnen pulsierte das urbane Leben. Der Straßenverkehr wuchs rapide. Um 1870 galt Paris als modernste Metropole der Welt. Photographen begleiteten den tiefgreifenden Wandel.
(…) überall stürzten Mauerteile mit donnerndem Lärm herab, Staubwolken verdunkelten den Himmel, Arbeiter schrien (…), mit Schutt beladene Wagen gruben Schlammtäler; (…) es regnete Schutt und Ziegelsteine.
Im Auftrag der Pariser Stadtverwaltung lichtete der Photograph Charles Marville medienwirksam die Pracht des neu renovierten Paris ab. Seine technisch perfekten Arbeiten sind stets menschenleer. Durch extrem lange Belichtungszeiten blendete er die beweglichen Passanten aus.
Zu den beliebtesten Darstellungen des neuen Paris gehörten Stereophotograpien. Diese Momentaufnahmen erlaubten aufgrund ihrer äußerst kurzen Belichtungszeit und kleinen Negativformate eine realistische Wiedergabe von Bewegung und Dynamik. Durch ein spezielles Betrachtergerät gesehen, erzielten sie einen eindrucksvollen 3D-Effekt.
Wenn Sie auf den Arc de Triomphe steigen und unter sich auf die Champs-Élysées blicken, sehen Sie eine Vielzahl (…) verschiedenfarbiger Flecken, die sich auf dem Pflaster und auf den Gehwegen bewegen. Mehr würden Ihre Augen nicht zu unterscheiden vermögen.
Die moderne Industriearchitektur galt als Symbol des technischen Fortschritts. Früh fanden die aus Eisen und Stahl konstruierten Bauten Eingang in die Motivwelt der Impressionisten. Zahlreiche Photographen beschäftigten sich mit der Dokumentation der Seine-Brücken in Paris oder mit dem wachsenden Schienennetz in Frankreich.
Die neue Infrastruktur der Brücken und Eisenbahnen war für Maler und Photographen nicht nur ein interessantes Motiv. Die modernen Verkehrsprojekte ermöglichten den Kreativen auch eine zuvor ungekannte Mobilität. Sie veränderten die Landschaft und deren Wahrnehmung.
Schatten und Licht
Im 19. Jahrhundert kam es zu tiefgreifenden Veränderungen in der französischen Landschaftsmalerei. Immer mehr Künstler wandten sich von idealisierenden Naturdarstellungen ab.
Auf den Spuren der Maler von Barbizon unternahmen Claude Monet und Pierre-Auguste Renoir ab 1862 ausgedehnte Malausflüge in den Wald von Fontainebleau. Ihnen folgten die Photographen mit ihren schweren Großformatkameras, Holzstativen und tragbaren Dunkelkammern. Auch sie arbeiteten unter freiem Himmel direkt vor dem Motiv. Eine neue Kunst der Landschaftsdarstellung entstand. Der Maler Théodore Rousseau wünschte sich:
Bäume zu malen, in denen keine Nymphe wohnt, sondern die (…) Eichen von Fontainebleau, artige Ulmen am Wegesrand, die schlichten Birken (…), und das Ganze ohne griechischen Tempel (…)
Viele frühe Fotografen, wie Henri Le Secq und Gustave Le Gray, waren als Maler ausgebildet. Sie besaßen ein Auge für die subtilen Veränderungen und kompositorischen Wirkungen von Licht und Schatten.
Der Photograph muss in viel stärkerem Maße als der Maler den richtigen Standpunkt suchen und auswählen, weil er im Unterschied zu den Malern nicht die Möglichkeit hat, seinem Bild etwas hinzuzufügen oder etwas davon wegzunehmen. Unabhängig davon, für welchen Standort er sich entscheidet, muss der Photograph außerdem den Zeitpunkt, zu dem die Landschaft am besten ausgeleuchtet wird, und den Tag auswählen, an dem die Natur am schönsten ist.
Der Amateurphotograph Eugène Cuvelier heiratete die Tochter des Wirts in der „Auberge Ganne“, dem Künstlertreff von Barbizon, und blieb: Er erkundete den Wald von Fontainebleau im Wechsel der Jahreszeiten und Lichtstimmungen photographisch. Mit den Malern, von denen viele als Sommergäste kamen, verkehrte er als Freund. Manche kauften seine Aufnahmen als Vorlagen.
Bescheidene Motive
Wie die Impressionisten um Claude Monet spürten die Photographen unscheinbaren Landschaften nach. Sie nahmen Flussläufe, Felder oder blühende Wiesen wie beiläufig in den Blick. Dabei reichten die Darstellungsformen von heimatkundlichen Dokumentaraufnahmen der bäuerlichen Bevölkerung bis zu ‚malerischen‘ Lichtbildern mit Kunstanspruch. Die Motive spiegeln eine Neubewertung des Landlebens. Es erscheint als Gegenwelt zur Hektik des großstädtischen Alltags und zur rapide sich ausbreitenden Industrialisierung.
Auf den Feldern rund um ihre Wohnorte fingen die Impressionisten für ihr Pariser Publikum unspektakuläre Motive französischer Landschaften ein: Kornfelder, Pappelreihen, Feldwege und Getreideschober. Auch die Photographen nahmen die Spuren bäuerlicher Arbeit in den Blick. Nicht immer sind diese Aufnahmen dokumentarisch. So inszenierte Henry Peach Robinson seine Modelle in sorgfältig gewählten Kostümen wie ein Regisseur.
Wasserläufe und Spiegelungen der Bäume am Ufer boten Malern wie Photographen raffinierte Gestaltungsmöglichkeiten. Jede Standortveränderung, jeder Wetterwechsel beeinflusste das Spiel der Lichtreflexionen. Gerade die Landschaftsphotographie übernahm eine wichtige Rolle bei der Aufwertung der Photographie als Kunstform. Sie setzte sich von der massenhaft verbreiteten, kommerziellen Portraitphotographie ab.
Zahlreiche Photographen versuchten den Kunstwert ihrer Landschaftsbilder zu erhöhen, indem sie eine motivische sowie stilistische Nähe zur Malerei suchten – etwa den Seerosenbildern von Claude Monet. Im Gegenzug veränderte die Ausschnitthaftigkeit und Momenthaftigkeit der Photographie auch den Blick der Maler auf die Wirklichkeit.
Die durch Monet populär gemachten Seerosenmotive spiegeln die wechselseitige Beeinflussung und Anregung der Medien. Die Darstellung flüchtiger, ephemerer Natureindrücke wird dabei zum Kennzeichen des Modernen.
Seit Jahrhunderten hatten Stilllebenmaler die illusionistische Wiedergabe von Dingen und Oberflächen perfektioniert: Trompe-l'œil – Augentäuscherei – nannte man dies. Mit der Erfindung der Photographie übernahm das mechanisch erzeugte Abbild eine Unterstützerfunktion für viele Maler. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt zwischen den beiden Medien waren Vorlagenphotos. Zusehends ersetzten sie die herkömmlichen Vorzeichnungen. Viele Künstler legten sich Photoarchive mit gestochen scharfen Detailansichten von Pflanzen, Tieren oder Felsformationen an.
Charles Aubry hatte ursprünglich als Textildesigner gearbeitet und über 30 Jahre hinweg Muster für die Herstellung von Stoffen und Tapeten entworfen. 1864 eröffnete er ein Photoatelier in Paris. Seine über 200 Blumenbilder, Pflanzenstudien und botanischen Stillleben bestechen durch eine fein abgestufte Helldunkelführung. Sie lassen an Gemälde Alter Meister denken.
Die Stilllebenaufnahmen des bei Dresden tätigen Photographen August Kotzsch wirken erstaunlich modern. Mit kühl-distanziertem Blick betonen sie die plastische Dinghaftigkeit der Objekte. Die Lichtbilder scheinen die nüchterne Ästhetik der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre vorwegzunehmen.
Malerische Lichtbilder
Noch um 1900 war der Kunstwert der Photographie umstritten. Sie liefere, so eine gängige Auffassung, nur ein seelenloses Abbild der Wirklichkeit. Entschieden für eine Aufwertung der Photographie als eine der Malerei ebenbürtige Kunstform setzten sich die Vertreter der Kunstphotographie ein. Diese internationale Strömung, auch Piktorialismus genannt, kam in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf und reichte bis zum Ersten Weltkrieg.
Die Photographie imitiert alles und drückt nichts aus. Sie ist blind in der Welt des Geistes.
Viele Piktorialisten waren passionierte Amateurphotographen. Sie verstanden sich als Avantgarde, traten durch Ausstellungen und kunsttheoretische Publikationen in die Öffentlichkeit und suchten gezielt Möglichkeiten, ihre Arbeiten gleichberechtigt neben Werken der zeitgenössischen Malerei zu präsentieren.
Die Piktorialisten grenzten sich auch von dem neuen Phänomen der Massenphotographie ab. Sie bevorzugten technisch anspruchsvolle Edeldruckverfahren. Das Negativ war für sie nur Ausgangspunkt eines aufwendigen Arbeitsprozesses. Am Ende stand ein Positiv mit der Aura eines Kunstwerks: ein nicht reproduzierbares Unikat.
Malerische Unschärfe, diffuse Lichtstreuung und weiche Konturen kennzeichnen viele Arbeiten der Kunstphotographen. Bei ihren aufwendigen Gummidruckverfahren experimentierten sie aber auch mit farbigen Tönungen. Dazu mussten mehrere Druckvorgänge mit verschiedenen Farbpigmenten nacheinander durchgeführt werden.
Ein einziges, durch und durch überlegtes Bild, (…) als Endergebnis einer systematisch fortgesetzten Versuchsreihe (…), ist mehr wert als ein Dutzend halbfertiger, technisch nur eben genügender Arbeiten.
Winterlandschaften gibt es in der europäischen Kunst seit dem 17. Jahrhundert. Die Impressionisten faszinierte das Motiv. Denn Schnee ist niemals reinweiß. Die gefrorenen Kristalle reflektieren das farbige Sonnenlicht. Die Schatten schimmern in bläulichen Nuancen.
Mit kühnen Kompositionen und träumerischen Stimmungen suchten die Piktorialisten den Wettstreit mit der Malerei.
Die Welt in Farbe
Für die Entwicklung der Photographie war es eine Revolution. 1907 brachten die Brüder Lumière das erste praktikable Farbphotoverfahren auf den Markt. Dank industriell vorgefertigter Farbraster-Platten war es nun möglich, automatisch farbige Lichtbilder aufzunehmen. Die in winzigen Stärkekörnchen auf die Glasplattennegative aufgebrachten Pigmente machten es möglich. Sie sorgen bei der Aufnahme für einen körnigen Effekt, der an die getupfte Pinselführung des Pointillismus erinnerte. Die transparenten Farbdias konnten im großen Format an die Wand projiziert werden: ein nahezu magischer Effekt.
Viele der Kunstphotographen lehnten das Autochrome-Verfahren ab, bot es doch kaum Möglichkeiten, künstlerisch in den Herstellungsprozess einzugreifen und die Bildwirkung durch manuelle Eingriffe zu steuern. Der österreichische Piktorialist Heinrich Kühn hingegen war begeistert. Seine ausgeklügelten Kompositionen verraten eine Auseinandersetzung mit dem Impressionismus.
Häufige Besuche von Gemäldegalerien, vor allem aber der ersten Sezessions-Ausstellung (…) regten mich besonders an. Der neue Ausdruck der bildenden Kunst wirkte bestimmend auf meine Arbeiten.
Zu den wichtigen Vertretern der künstlerischen Autochrome gehört der Photograph Antonin Personnaz. Er machte sich auch als Sammler impressionistischer Malerei einen Namen. Seine Flusslandschaften erinnern unmittelbar an Bildstrategien von Claude Monet und seinen Kollegen. Mit dem Maler Armand Guillaumin war er befreundet.
Auch Frauen griffen zur Kamera und experimentierten mit den neuen technischen Möglichkeiten. Die meisterhaften Autochrome von Louise Deglane ähneln in ihrer Motivwahl und ihren Bildstrategien dem Impressionismus. Sie gehörte ab 1914 zu den wenigen weiblichen Mitgliedern der Société française de photographie.
Im 19. Jahrhundert befanden sich Photographie und Malerei in einem produktiven Wettstreit. Verbunden durch gemeinsame Themen wie das Licht oder das Sehen selbst, war die Entwicklung beider Disziplinen ein wechselseitiger Emanzipationsprozess. Für die Photographie führte er zu Akzeptanz als künstlerische Darstellungsform, während sich die Malerei zu einer Neudefinition ihrer Ausdrucksform angeregt sah.
Während sich die Avantgarde in der Malerei expressionistischen oder kubistischen Strömungen zuwandte, waren viele Arbeiten der Piktorialisten noch vom Impressionismus und Symbolismus geprägt. Immer wieder reagierten die Kunstphotographen in ihren Tableaus auf Werke der impressionistischen Malerei, bisweilen mit einer Verzögerung von Jahrzehnten.