
Eine neue Kunst
Im 19. Jahrhundert wählten zahlreiche Photographen die gleichen Motive wie die Maler des Impressionismus: den Wald von Fontainebleau, die Steilküste von Étretat oder die moderne Metropole Paris. Auch sie studierten die wechselnden Lichtsituationen und Wetterlagen. Dabei arbeiteten sie mit allen Tricks, ständig auf der Suche nach dem perfekten Bild.
Dialog und Konkurrenz
Von Anfang an verfolgte das neu erfundene technische Medium einen künstlerischen Anspruch. Photographie und Malerei spornten sich gegenseitig an: Konkurrenz und Anregung kennzeichneten das Wechselspiel der beiden Künste.
Die Ausstellung beleuchtet diese spannende Entwicklung von den 1850er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg. Sie zeigt Meisterwerke der frühen Photographie von Gustave Le Gray, Alfred Stieglitz, Louise Deglane und Heinrich Kühn. Zwischen ihren Aufnahmen und den Gemälden des Impressionismus aus der Sammlung Hasso Plattner tun sich erstaunliche Parallelen auf.
Der Barberini Prolog zur Ausstellung ...
... zeigt auf, wie Photographie und Malerei aufeinander reagierten. Ob am Meer, auf den Boulevards der Stadt oder auf verschneitem Feld: ihre Arbeiten halten den flüchtigen Augenblick fest — und damit das Lebensgefühl der Moderne.
Dass die Photographie eine gänzlich mechanische Wissenschaft ist (…), können wir nicht zugeben. (…) wir glauben, dass sie mit der Zeichenkunst auf gleicher Höhe steht (…)


Die Steilküste der Normandie, hier bei Étretat, war bereits im 19. Jahrhundert eine Touristenattraktion.
Louis Alphonse Davanne: Étretat, Klippe links, Nr. 2, 1864, Beaux-Arts de Paris
Majestätische Weite

Claude Monet: Steilküste von Aval, 1885, Sammlung Hasso Plattner
Wie einige Photographen faszinierten auch Monet die schroffen Felsen bei Étretat, die er bei wechselnden Wetterlagen malte.
Als Ausdruck grenzenloser Weite waren Wolkenbilder und Seestücke mit der Idee des Erhabenen verknüpft – also der Natur als einer majestätischen und unbezwingbaren Urgewalt. Das unablässig bewegte Meer kam dem Wunsch der Impressionisten entgegen, flüchtige Sinneseindrücke möglichst unmittelbar auf die Leinwand zu bannen. Auch die frühe Photographie setzte sich intensiv mit Darstellungen von Himmel und Meer auseinander. Sie verfolgte dabei sowohl künstlerische wie auch wissenschaftliche Ambitionen.
Zu den bedeutendsten frühen Photographen zählte Gustave Le Gray. Ab 1856 fertigte er eine Reihe von detailscharfen Meeresansichten mit hohem künstlerischen Anspruch an. Ihm gelang es erstmals, die Brandung nuanciert wiederzugeben. Da die Wiedergabe von Himmel und Meer unterschiedliche Belichtungszeiten erforderte, kombinierte Le Gray teilweise zwei Negative.
Gustave Le Grays Ausbildung als Maler machte sich auch in seinen perfekten Bildkompositionen bemerkbar.
1857 eine Sensation: In diesem Photo fing Le Gray die Gischt gestochen scharf ein.
(…) die größte Leistung, die wir je in der Photographie erlebt haben.
Wie die Maler hielten die Photographen verschiedene Lichtstimmungen experimentell fest. Nachtaufnahmen mit der Kamera waren anfangs aufgrund der lichtschwachen Objektive nicht möglich. Henry Stuart Wortley richtete seine Kamera bei bewölktem Himmel direkt gegen die Sonne, um dramatische Lichteffekte zu erzielen, die er als Mondlichteffekte ausgab.

Henry Stuart Wortley: Wie lieblich das Mondlicht auf der Welle schläft, um 1869, Céline, Aeneas, Heiner Bastian
Henry Stuart Wortley gab seiner Meeresansicht den poetischen Titel How Sweet the Moonlight Sleeps Upon the Wave. Er spielt auf eine Zeile aus Shakespeares Kaufmann von Venedig an.
Wie bricht eine Welle? Die Chronophotographie erfasste komplexe Bewegungsabläufe durch schnell hintereinander geschaltete Aufnahmen exakter als das menschliche Auge es vermag. Nicht nur die Naturwissenschaften profitierten davon. Auch Maler griffen darauf zurück.

Albert Londe: Die Welle, 1893 (Abzug 1992), Beaux-Arts de Paris, © bpk / RMN - Grand Palais, / Albert Londe
Für seine Aufnahme Die Welle nutzte Albert Londe eine selbst konstruierte Kamera mit 12 Objektiven. Die Einzelbilder wurden dann auf einer gemeinsamen Glasplatte belichtet.

Mitte des 19. Jahrhunderts rückte die Beobachtung und Erforschung von Wolken in den Fokus der Wissenschaft. Meteorologische Institute in Berlin, London und Paris wurden gegründet, Wolkenbilder erstmals systematisch klassifiziert. Die Photographie half dabei.

Carl Teufel: Wolkenstudie, Bayern, um 1890, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie
Der in Süddeutschland tätige Carl Teufel bot seine Wolkenaufnahmen speziell als Vorlagen für Künstler an.

Alfred Sisley: Wiesen von Veneux-Nadon, 1881, Sammlung Hasso Plattner
Cumulus oder Cirrocumulus? Alfred Sisleys Gemälde verraten einen präzisen Blick für die charakteristischen Wolkenformationen.
Die technischen Möglichkeiten, flüchtige Wetterphänomene mit zunehmender Genauigkeit festzuhalten, machten die Photographie auch zu einem wichtigen Hilfsmittel der metereologischen Forschung. Die Blitzphotographie lieferte neue Erkenntnisse zur elektrischen Funkenentladung. Aber sie veränderte auch die Landschaftsmalerei. Fortan wurden Blitze nicht mehr als einfache Zickzackformen wiedergegeben.
Es erforderte viel technisches Geschick und Erfahrung, um bei Himmelsaufnahmen Überbelichtungen zu vermeiden – Robert Scholz ist dies bei seiner Wolkenstudie 1870 beispielhaft gelungen.
Spektakuläre Erkenntnisse: Der Naturwissenschaftler Emil Jacobsen erforschte mit seinen Photographien die Dauer und Struktur von Blitzen.


Resultate der „Hausmannisierung“: Die großen Pariser Boulevards waren erst im Zuge eines gewaltigen Stadtumbaus im 19. Jahrhundert entstanden.
Anonym: Grand Boulevard, Paris, um 1875, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie
Zentrum der Moderne

Gustave Caillebotte: Rue Halévy, Blick aus der sechsten Etage, 1878
1878 entstand dieser Blick Gustave Caillebottes auf die Rue Halévy. Von der sechsten Etage aus blickte der Impressionist in die rasant sich verkürzende Straßenflucht. Ganz ähnliche Perspektiven wählten die Photographen.
Paris war eine Stadt im Umbruch. Ganze Straßenzüge des mittelalterlichen Stadtkerns wurden seit den 1850er Jahren abgerissen. Ambitionierte Neubauten in einem einheitlichen Architekturstil wuchsen empor.
Breite Boulevards und Alleen brachten Luft und Licht in die Hauptstadt. Auf ihnen pulsierte das urbane Leben. Der Straßenverkehr wuchs rapide. Um 1870 galt Paris als modernste Metropole der Welt. Photographen begleiteten den tiefgreifenden Wandel.
(…) überall stürzten Mauerteile mit donnerndem Lärm herab, Staubwolken verdunkelten den Himmel, Arbeiter schrien (…), mit Schutt beladene Wagen gruben Schlammtäler; (…) es regnete Schutt und Ziegelsteine.
Im Auftrag der Pariser Stadtverwaltung lichtete der Photograph Charles Marville medienwirksam die Pracht des neu renovierten Paris ab. Seine technisch perfekten Arbeiten sind stets menschenleer. Durch extrem lange Belichtungszeiten blendete er die beweglichen Passanten aus.

Charles Marville: Paris, Rue de Rivoli, um 1877, Bibliothèque historique de la Ville de Paris
Für diese Aufnahme bezog der Photograph seinen Standort ganz in der Nähe des Louvre. Der niedrige Kamerastandpunkt betont dabei den weiten Straßenraum.
Zu den beliebtesten Darstellungen des neuen Paris gehörten Stereophotograpien. Diese Momentaufnahmen erlaubten aufgrund ihrer äußerst kurzen Belichtungszeit und kleinen Negativformate eine realistische Wiedergabe von Bewegung und Dynamik. Durch ein spezielles Betrachtergerät gesehen, erzielten sie einen eindrucksvollen 3D-Effekt.
Stereoaufnahmen waren das erste Massenmedium der Geschichte. Sie erzielten enorme Verbreitung. Diese Aufnahme entstand 1860 ...
... während Camille Pissarro den belebten Boulevard Montmartre für dieses Gemälde 1897 festhielt. Das Bild stammt aus einer Serie von 14 Werken, für die Pissarro den Boulevard bei wechselnden Lichtstimmungen malte.
Kutschen, Passanten, Verkehrsgetümmel: Die Momentaufnahmen aus dem Straßenleben faszinierten die Zeitgenossen.
Wenn Sie auf den Arc de Triomphe steigen und unter sich auf die Champs-Élysées blicken, sehen Sie eine Vielzahl (…) verschiedenfarbiger Flecken, die sich auf dem Pflaster und auf den Gehwegen bewegen. Mehr würden Ihre Augen nicht zu unterscheiden vermögen.
Der später berühmte Photograph Jacques Henri Lartigue war erst 17 Jahre alt, als ihm 1911 diese perfekte Momentaufnahme gelang.
Auch die Schattenseiten der schillernden Metropole hielt die Kamera dokumentarisch fest, hier auf einer um 1900 entstandenen Aufnahme von Louis Vert.

Die moderne Industriearchitektur galt als Symbol des technischen Fortschritts. Früh fanden die aus Eisen und Stahl konstruierten Bauten Eingang in die Motivwelt der Impressionisten. Zahlreiche Photographen beschäftigten sich mit der Dokumentation der Seine-Brücken in Paris oder mit dem wachsenden Schienennetz in Frankreich.

Augustin Hippolyte gen. Auguste Collard: Pont de Grenelle, Paris, um 1875/76, Bibliothèque de l’École nationale des Ponts et Chaussées, Marne-la-Vallée
Auguste Collard war als Photograph auf Industriearchitektur spezialisiert. In dieser Aufnahme der Pariser Pont de Grenelle dynamisiert er effektvoll seine Bildkomposition.
Die neue Infrastruktur der Brücken und Eisenbahnen war für Maler und Photographen nicht nur ein interessantes Motiv. Die modernen Verkehrsprojekte ermöglichten den Kreativen auch eine zuvor ungekannte Mobilität. Sie veränderten die Landschaft und deren Wahrnehmung.
Für diese Aufnahme stellte Auguste Collard seine Kamera direkt unterhalb der Brücke auf: eine ungewöhnliche, wirkungsvolle Perspektive.
Auch auf den Bildern der impressionistischen Maler kommen die modernen Brückenbauten ins Bild, wie hier auf Paul Signacs Klipper, entstanden 1887.
Auguste Collard dokumentierte sämtliche Seine-Brücken in Paris, hier die Pont de Grenelle.
Moderne Verkehrswege in vehementer Malerei: Der fauvistische Maler Maurice de Vlaminck knüpfte an impressionistische Sujets an.


Ein Bild wie ein Waldspaziergang: Das fein differenzierte Lichtspiel führt den Blick in Georg Maria Eckerts Mittelgrundstudie - Felsiger Weg im Walde in die Tiefe.
Georg Maria Eckert: Mittelgrundstudie — Felsiger Weg im Walde, Heidelberg, 1867/68, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie
Schatten und Licht

Pierre-Auguste Renoir: Waldweg, 1874–1877, Sammlung Hasso Plattner
Wie die Maler der Generation vor ihm in Barbizon erkundete auch Pierre-Auguste Renoir waldiges Terrain. Die Auflösung der Formen trieb der Impressionismus immer weiter voran.
Im 19. Jahrhundert kam es zu tiefgreifenden Veränderungen in der französischen Landschaftsmalerei. Immer mehr Künstler wandten sich von idealisierenden Naturdarstellungen ab.
Auf den Spuren der Maler von Barbizon unternahmen Claude Monet und Pierre-Auguste Renoir ab 1862 ausgedehnte Malausflüge in den Wald von Fontainebleau. Ihnen folgten die Photographen mit ihren schweren Großformatkameras, Holzstativen und tragbaren Dunkelkammern. Auch sie arbeiteten unter freiem Himmel direkt vor dem Motiv. Eine neue Kunst der Landschaftsdarstellung entstand. Der Maler Théodore Rousseau wünschte sich:
Bäume zu malen, in denen keine Nymphe wohnt, sondern die (…) Eichen von Fontainebleau, artige Ulmen am Wegesrand, die schlichten Birken (…), und das Ganze ohne griechischen Tempel (…)

Henri Le Secq: Kleiner Bach im Wald, um 1852/53, Musée des Arts Décoratifs, Paris
Der plätschernde Wasserlauf in der Aufnahme Henri Le Secqs erscheint durch die lange Belichtungszeit verwischt: wie eingefroren. Alles andere ist gestochen scharf erfasst.
Viele frühe Fotografen, wie Henri Le Secq und Gustave Le Gray, waren als Maler ausgebildet. Sie besaßen ein Auge für die subtilen Veränderungen und kompositorischen Wirkungen von Licht und Schatten.
Der Photograph muss in viel stärkerem Maße als der Maler den richtigen Standpunkt suchen und auswählen, weil er im Unterschied zu den Malern nicht die Möglichkeit hat, seinem Bild etwas hinzuzufügen oder etwas davon wegzunehmen. Unabhängig davon, für welchen Standort er sich entscheidet, muss der Photograph außerdem den Zeitpunkt, zu dem die Landschaft am besten ausgeleuchtet wird, und den Tag auswählen, an dem die Natur am schönsten ist.
Der Amateurphotograph Eugène Cuvelier heiratete die Tochter des Wirts in der „Auberge Ganne“, dem Künstlertreff von Barbizon, und blieb: Er erkundete den Wald von Fontainebleau im Wechsel der Jahreszeiten und Lichtstimmungen photographisch. Mit den Malern, von denen viele als Sommergäste kamen, verkehrte er als Freund. Manche kauften seine Aufnahmen als Vorlagen.
Der Weg führt in die Tiefe – ein klassisches Motiv der Landschaftsmalerei, hier durch Eugène Cuvelier photographisch aufgegriffen.
Die bizarren Felsen im Wald von Fontainebleau galten schon damals als Sehenswürdigkeit.
Die vertraute Szenerie im Wald von Fontainebleau, verändert durch Schnee: Eugène Cuvelier hielt auch dies fest.


Das diffuse Licht in Constantin Puyos Photographie Zwei Frauen im Feld ahmt Effekte der impressionistischen Malerei nach.
Constant Puyo: Zwei Frauen im Feld, 1894–1926, Société française de photographie, Paris
Bescheidene Motive

Claude Monet: Unter den Pappeln, 1887, Sammlung Hasso Plattner
1883 zog Claude Monet nach Giverny, ein Dorf mit weniger als 300 Einwohnern etwa 80 Kilometer nordwestlich von Paris. Dort fand er seine ländlichen Motive im Umfeld seines Hauses.
Wie die Impressionisten um Claude Monet spürten die Photographen unscheinbaren Landschaften nach. Sie nahmen Flussläufe, Felder oder blühende Wiesen wie beiläufig in den Blick. Dabei reichten die Darstellungsformen von heimatkundlichen Dokumentaraufnahmen der bäuerlichen Bevölkerung bis zu ‚malerischen‘ Lichtbildern mit Kunstanspruch. Die Motive spiegeln eine Neubewertung des Landlebens. Es erscheint als Gegenwelt zur Hektik des großstädtischen Alltags und zur rapide sich ausbreitenden Industrialisierung.
Auf den Feldern rund um ihre Wohnorte fingen die Impressionisten für ihr Pariser Publikum unspektakuläre Motive französischer Landschaften ein: Kornfelder, Pappelreihen, Feldwege und Getreideschober. Auch die Photographen nahmen die Spuren bäuerlicher Arbeit in den Blick. Nicht immer sind diese Aufnahmen dokumentarisch. So inszenierte Henry Peach Robinson seine Modelle in sorgfältig gewählten Kostümen wie ein Regisseur.
Der britische Photograph William Sherlock schuf in den 1850er Jahren Aufnahmen des ländlichen Lebens.
Landleben bei Camille Pissarro: Zwei Bauernkinder entfachen ein Reisigfeuer. Das strahlende Winterlicht idealisiert die Alltagsszene.
Kein Schnappschuss, sondern inszenierte Wirklichkeit: Der einflussreiche britische Photograph Henry Peach Robinson war ein Wortführer der künstlerischen Photographie.

Stéphanie Breton: Das Schloss von Franqueville bei Rouen, 1861, Société française de photographie, Paris
Die in Rouen lebende Photographin Stéphanie Breton gehörte zu den wenigen Frauen der frühen Lichtbildkunst. Nur wenige Aufnahmen von ihr sind erhalten.
Wasserläufe und Spiegelungen der Bäume am Ufer boten Malern wie Photographen raffinierte Gestaltungsmöglichkeiten. Jede Standortveränderung, jeder Wetterwechsel beeinflusste das Spiel der Lichtreflexionen. Gerade die Landschaftsphotographie übernahm eine wichtige Rolle bei der Aufwertung der Photographie als Kunstform. Sie setzte sich von der massenhaft verbreiteten, kommerziellen Portraitphotographie ab.

Zahlreiche Photographen versuchten den Kunstwert ihrer Landschaftsbilder zu erhöhen, indem sie eine motivische sowie stilistische Nähe zur Malerei suchten – etwa den Seerosenbildern von Claude Monet. Im Gegenzug veränderte die Ausschnitthaftigkeit und Momenthaftigkeit der Photographie auch den Blick der Maler auf die Wirklichkeit.
Im Garten von Giverny legte sich Monet eigens einen Seerosenteich an. Dieser Teich wurde zum bestimmenden Motiv seines späten Schaffens.
Wie Monet richtete der amerikanische Photograph Dwight A. Davis seinen Blick direkt auf die schimmerne Wasseroberfläche, die er in feinsten Graustufen einfing.
Monets späte Seerosenbilder erkunden das Wechselspiel von Wasserspiegelung und Licht.
Da es 1890 noch kein Farbphotoverfahren gab, ist diese anonyme Aufnahme handkoloriert.
Die durch Monet populär gemachten Seerosenmotive spiegeln die wechselseitige Beeinflussung und Anregung der Medien. Die Darstellung flüchtiger, ephemerer Natureindrücke wird dabei zum Kennzeichen des Modernen.

Seit Jahrhunderten hatten Stilllebenmaler die illusionistische Wiedergabe von Dingen und Oberflächen perfektioniert: Trompe-l'œil – Augentäuscherei – nannte man dies. Mit der Erfindung der Photographie übernahm das mechanisch erzeugte Abbild eine Unterstützerfunktion für viele Maler. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt zwischen den beiden Medien waren Vorlagenphotos. Zusehends ersetzten sie die herkömmlichen Vorzeichnungen. Viele Künstler legten sich Photoarchive mit gestochen scharfen Detailansichten von Pflanzen, Tieren oder Felsformationen an.

Charles Aubry: Stillleben, um 1864, Musée d’Orsay, Dépôt du Mobilier national, Paris, © bpk / RMN - Grand Palais / Charles Aubry
Charles Aubrys Komposition ähnelt einem klassischen Stilllebengemälde.
Charles Aubry hatte ursprünglich als Textildesigner gearbeitet und über 30 Jahre hinweg Muster für die Herstellung von Stoffen und Tapeten entworfen. 1864 eröffnete er ein Photoatelier in Paris. Seine über 200 Blumenbilder, Pflanzenstudien und botanischen Stillleben bestechen durch eine fein abgestufte Helldunkelführung. Sie lassen an Gemälde Alter Meister denken.

Charles Aubry: Gartenastern, um 1864, Musée d’Orsay, Dépôt du Mobilier national, Paris, © bpk / RMN - Grand Palais / Charles Aubry
Charles Aubry erfasste feinfühlig den Lichteinfall auf den zarten Blütenblättern seiner Gartenastern.

Gustave Caillebotte: Flieder und Pfingstrosen in zwei Vasen, 1883, Sammlung Hasso Plattner
Genaues Naturstudium und freie Pinselführung: Auch die Impressionisten wählten das traditionelle Stilllebengenre.
Die Stilllebenaufnahmen des bei Dresden tätigen Photographen August Kotzsch wirken erstaunlich modern. Mit kühl-distanziertem Blick betonen sie die plastische Dinghaftigkeit der Objekte. Die Lichtbilder scheinen die nüchterne Ästhetik der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre vorwegzunehmen.

August Kotzsch: Melone aufgeschnitten, um 1870, Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Appetit auf Melone? Der deutsche Photograph August Kotzsch vertrieb seine kühlen, sachbezogenen Aufnahmen bis nach New York.

Claude Monet: Stillleben mit spanischer Melone, 1879, Sammlung Hasso Plattner
Monet zeigt die Melone im Anschnitt: Sein sorgfältig arrangiertes Früchtestillleben lebt von der Üppigkeit der Farben und Formen.


Wie gemalt? Der deutsche Photograph Hugo Henneberg erzielte durch aufwendige Edeldruckverfahren verblüffende Effekte.
Hugo Henneberg: Buchenwald im Herbst, 1898, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek
Malerische Lichtbilder

Pierre-Auguste Renoir: Verschattete Allee, 1872
In Renoirs Verschatteter Allee fangen die Farbtupfen des Malers das gefilterte Sonnenlicht ein, das durch das Blattwerk fällt.
Noch um 1900 war der Kunstwert der Photographie umstritten. Sie liefere, so eine gängige Auffassung, nur ein seelenloses Abbild der Wirklichkeit. Entschieden für eine Aufwertung der Photographie als eine der Malerei ebenbürtige Kunstform setzten sich die Vertreter der Kunstphotographie ein. Diese internationale Strömung, auch Piktorialismus genannt, kam in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf und reichte bis zum Ersten Weltkrieg.
Die Photographie imitiert alles und drückt nichts aus. Sie ist blind in der Welt des Geistes.
Nebel gehörte zu den Lieblingseffekten vieler Piktorialisten um 1900. Für diese Aufnahme von 1897 nutzte ihn Marcel Vanderkindere in einer Winterlandschaft.
Der belgische Amateurphotograph Édouard Hannon stellte international aus. Sein kostspieliges Hobby finanzierte der Ingenieur durch seine Tätigkeit für einen Chemiekonzern.
Der dänische Kunstphotograph Carl Frederiksen nutzte den Gegenlichteffekt brillant.
Viele Piktorialisten waren passionierte Amateurphotographen. Sie verstanden sich als Avantgarde, traten durch Ausstellungen und kunsttheoretische Publikationen in die Öffentlichkeit und suchten gezielt Möglichkeiten, ihre Arbeiten gleichberechtigt neben Werken der zeitgenössischen Malerei zu präsentieren.

Claude Monet: Argenteuil am Spätnachmittag, 1872, Sammlung Hasso Plattner
Monet war fasziniert von dem sich wandelnden Charakter der industriell aufstrebenden Stadt Argenteuil – Schornsteine am Horizont zeugen von der Industrialisierung. In der Kunstphotographie sind solche Motive hingegen eine Seltenheit.

Robert Demachy: Seineufer, um 1906, Société française de photographie, Paris
Die stimmungsvolle Aufnahme des bedeutenden Piktorialisten Robert Demachy arbeitet mit bewussten Unschärfen.
Die Piktorialisten grenzten sich auch von dem neuen Phänomen der Massenphotographie ab. Sie bevorzugten technisch anspruchsvolle Edeldruckverfahren. Das Negativ war für sie nur Ausgangspunkt eines aufwendigen Arbeitsprozesses. Am Ende stand ein Positiv mit der Aura eines Kunstwerks: ein nicht reproduzierbares Unikat.
Malerische Unschärfe, diffuse Lichtstreuung und weiche Konturen kennzeichnen viele Arbeiten der Kunstphotographen. Bei ihren aufwendigen Gummidruckverfahren experimentierten sie aber auch mit farbigen Tönungen. Dazu mussten mehrere Druckvorgänge mit verschiedenen Farbpigmenten nacheinander durchgeführt werden.
Zu den wichtigsten Piktorialisten im deutschsprachigen Raum zählt Heinrich Kühn.
In umfangreichen Werkserien lotete Kühn feinste Helldunkelstufen aus und erkundete Farbeffekte.
Ein einziges, durch und durch überlegtes Bild, (…) als Endergebnis einer systematisch fortgesetzten Versuchsreihe (…), ist mehr wert als ein Dutzend halbfertiger, technisch nur eben genügender Arbeiten.
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Winterlandschaften gibt es in der europäischen Kunst seit dem 17. Jahrhundert. Die Impressionisten faszinierte das Motiv. Denn Schnee ist niemals reinweiß. Die gefrorenen Kristalle reflektieren das farbige Sonnenlicht. Die Schatten schimmern in bläulichen Nuancen.

Gustav Eduard Bernhard Trinks: Farbige Schatten, 1897, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Sammlung Fotografie und neue Medien
Farbige Schatten nannte der Amateurphotograph Trinks seine Winterimpression. Die langgezogenen Baumschatten der tiefstehenden Wintersonne wirken fast abstrakt.
1893 malte Claude Monet die treibenden Eisschollen auf der Seine als eine Symphonie in Pastell. Selbst klirrende Kälte hielt die Impressionisten nicht davon ab, im Freien zu malen.
Winter über Bazincourt: Das intensive Leuchten der untergehenden Sonne verleiht Pissarros Schneelandschaft einen Hauch Wärme.
Rasch setzte Claude Monet die skizzenhaften Pinselstriche für die Schlittschuhläufer in Giverny auf die Leinwand. Ihr Rhythmus belebt die stille Winterlandschaft.
Der Amerikaner Rudolf Eickemeyer war als Photograph zwar Autodidakt, aber seine Aufnahmen verraten künstlerischen Anspruch.
Mit kühnen Kompositionen und träumerischen Stimmungen suchten die Piktorialisten den Wettstreit mit der Malerei.

Antonin Personnaz: Sonnenaufgang bei Schnee, um 1907–1914, Société française de photographie, Paris
Photographie oder Malerei? Personnaz greift das Motiv von Monets berühmter Bildserie der Getreideschober auf.

Claude Monet: Verschneiter Getreideschober in der Sonne, 1891, Sammlung Hasso Plattner
Im Winter wie im Sommer hielt Monet das markante ländliche Motiv der Getreideschober unter verschiedenen Lichtverhältnissen fest.


Oft nahm Heinrich Kühn, wie hier, seine Familie als Modell. In dieser Aufnahme verstärkt die Unschärfe den malerischen Effekt.
Heinrich Kühn: Miss Mary und Lotte, 1907, Österreichische Nationalbibliothek, Wien
Die Welt in Farbe
Für die Entwicklung der Photographie war es eine Revolution. 1907 brachten die Brüder Lumière das erste praktikable Farbphotoverfahren auf den Markt. Dank industriell vorgefertigter Farbraster-Platten war es nun möglich, automatisch farbige Lichtbilder aufzunehmen. Die in winzigen Stärkekörnchen auf die Glasplattennegative aufgebrachten Pigmente machten es möglich. Sie sorgen bei der Aufnahme für einen körnigen Effekt, der an die getupfte Pinselführung des Pointillismus erinnerte. Die transparenten Farbdias konnten im großen Format an die Wand projiziert werden: ein nahezu magischer Effekt.
Viele der Kunstphotographen lehnten das Autochrome-Verfahren ab, bot es doch kaum Möglichkeiten, künstlerisch in den Herstellungsprozess einzugreifen und die Bildwirkung durch manuelle Eingriffe zu steuern. Der österreichische Piktorialist Heinrich Kühn hingegen war begeistert. Seine ausgeklügelten Kompositionen verraten eine Auseinandersetzung mit dem Impressionismus.
In dieser durchkomponierten diagonalen Struktur setzt der Photograph Heinrich Kühn seine farbig gekleideten Kinder als gezielte Farbakzente ein.
Flüchtige Wolken, saftiges Wiesengrün: ein klassisches Impressionistenmotiv übersetzte Heinrich Kühn ins neue Medium des farbigen Autochroms.
Eintauchen in den Sommer: Aus unzähligen winzigen Pinselstrichen schuf Claude Monet eine farbig flirrende Atmosphäre.
Häufige Besuche von Gemäldegalerien, vor allem aber der ersten Sezessions-Ausstellung (…) regten mich besonders an. Der neue Ausdruck der bildenden Kunst wirkte bestimmend auf meine Arbeiten.
Zu den wichtigen Vertretern der künstlerischen Autochrome gehört der Photograph Antonin Personnaz. Er machte sich auch als Sammler impressionistischer Malerei einen Namen. Seine Flusslandschaften erinnern unmittelbar an Bildstrategien von Claude Monet und seinen Kollegen. Mit dem Maler Armand Guillaumin war er befreundet.
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Antonin Personnaz: Armand Guillaumin beim Malen von „Badende bei Crozant“, um 1907, Société française de photographie, Paris
Um 1907 photographierte Antonin Personnaz den Impressionisten Armand Guillaumin beim Malen. Die körnige Bildstruktur des Autochroms verstärkt die impressionistische Wirkung dieser sommerlichen Flusslandschaft; die Figurenkomposition spielt dabei auf ein berühmtes Gemälde des Pointillisten Georges Seurat an.
Auch Frauen griffen zur Kamera und experimentierten mit den neuen technischen Möglichkeiten. Die meisterhaften Autochrome von Louise Deglane ähneln in ihrer Motivwahl und ihren Bildstrategien dem Impressionismus. Sie gehörte ab 1914 zu den wenigen weiblichen Mitgliedern der Société française de photographie.

Claude Monet: Kante der Steilküste bei Pourville, 1882, Sammlung Hasso Plattner
Monet erkundete berühmte schroffe Steilküsten der Normandie aus unterschiedlichsten Blickwinkeln.

Louise Deglane: Strand mit Booten (Étretat), 1907–1936, Société française de photographie, Paris
Subtil setzt die Photographin Louise Deglane die sanfte Farbigkeit für ihre Aufnahme des Strands von Étretat ein. Jahrzehnte zuvor hatte Monet am selben Ort gemalt.

Claude Monet: Der Garten von Vétheuil, 1881, Sammlung Hasso Plattner
Unzählige Male hielt Claude Monet seine üppig blühenden Gärten fest, hier in Vétheuil.

Louise Deglane: Ein Mann in einem Rosengarten, nach 1907, Société française de photographie, Paris
Durch eine berankte Gitterlaube geht der Blick in den sonnenbeschienen Garten: Das Auge der Photographin Louise Deglane ist am Impressionismus geschult.
Im 19. Jahrhundert befanden sich Photographie und Malerei in einem produktiven Wettstreit. Verbunden durch gemeinsame Themen wie das Licht oder das Sehen selbst, war die Entwicklung beider Disziplinen ein wechselseitiger Emanzipationsprozess. Für die Photographie führte er zu Akzeptanz als künstlerische Darstellungsform, während sich die Malerei zu einer Neudefinition ihrer Ausdrucksform angeregt sah.
Während sich die Avantgarde in der Malerei expressionistischen oder kubistischen Strömungen zuwandte, waren viele Arbeiten der Piktorialisten noch vom Impressionismus und Symbolismus geprägt. Immer wieder reagierten die Kunstphotographen in ihren Tableaus auf Werke der impressionistischen Malerei, bisweilen mit einer Verzögerung von Jahrzehnten.